Polanski hält uns wieder den Spiegel vor

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 25. Mai 2012

Roman Polanski hat schon immer Filme gemacht, die Menschen am Abgrund zeigen. In „Ekel“ verliert sich eine junge Frau in ihren Wahnvorstellungen. In „Der Pianist“ wird ein jüdischer Klavierspieler Opfer der deutschen Verfolgung und muss sowohl Zwangsarbeit als auch die Hölle im Ghetto über sich ergehen lassen (die auch Polanski selbst als Kind miterlebte). In „Der Mieter“ glaubt ein Bankangestellter, dass seine Identität ersetzt werden soll. Und in „Der Gott des Gemetzels“ muss der Zuschauer mit ansehen, wie zwei eigentlich sehr ähnliche Paare aus der gehobenen Mittelschicht nach und nach die Fassade von Höflichkeit und Manier fallen lassen und Freud's Es alles zerstört, was wir für zivilisiert halten und als gesellschaftlich normal erachten.

Zwei Jungen, elf Jahre alt. Der eine will in die „Gang“ des anderen. Als er nicht aufgenommen wird und die anderen Kinder sich über ihn lustig machen, holt er mit dem Stock aus, den er grade in der Hand hält und schlägt dem Anderen zwei Zähne aus. Nicht unbedingt absichtlich; es ist nur ein kurzer Wutausbruch, der keine ernsthaften Konsequenzen hat. Aber dann müssen sich die Eltern der beiden zusammensetzen, weil die Versicherung eine Stellungnahme haben möchte. Anfänglich geht es noch sehr gesittet zu in der schicken Wohnung im heutigen New York. Aber nach und nach kommt das Schlimmste in den Anwesenden zum Vorschein. Verdrängte Aggressionen und Frustration brechen hervor. Als der Whiskey rausgeholt wird, hält sich niemand mehr zurück...

Alan und Nancy Cowan (Christoph Waltz und Kate Winslet), die Eltern des Täterkindes, sind zweimal schon zur Tür raus. Beim ersten Mal bringt sie die Höflichkeit zurück ins Wohnzimmer der Eltern des Opfers; beim zweiten Mal die Lethargie. Die Handlung, eingepfercht in das schicke, für den Besuch aufgeräumte Wohnzimmer der Longstreets, lebt, so wie alle Kammerspiele, ausschließlich von den Dialogen und den Figuren. Da ist die Mutter des Opfers, Penelope Longstreet (Jodie Foster), die Co-Autorin eines Buches über den Darfur-Konflikt ist und strikte Moralvorstellungen in ihrem Leben hat. Aber als im Laufe des Nachmittags enthüllt wird, dass ihr Mann Michael (John C. Reilly) den Hamster seiner Tochter ausgesetzt hat, wird schnell klar, dass „Moral“ ein dehnbarer Begriff ist. Wer genau hinschaut, während sich die Aggressionen immer weiter hochschaukeln, erkennt, dass jede der Figuren eigentlich wegen etwas empört ist, das mit dem Streit der Jungen gar nichts zu tun hat: Penelope ärgert sich über die Unfähigkeit ihrer Haushälterin, ihr Mann Michael ist ein verkappter Choleriker, dem eigentlich alles egal ist und Nancy Cowan fühlt sich von ihrem Gatten Alan allein gelassen, weil er mit seinem Beruf verheiratet ist. Schnell benehmen sich die Investmentbankerin, die Autorin und der Eisenwarenfachhändler wie streitende Kinder, die keinerlei Verantwortung für ihre Aussagen übernehmen. Einzig Alan Cowan bleibt geschützt in seiner phlegmatischen Distanz. Er stichelt nur hin und wieder gegen die moralischen Vorstellungen Penelopes und verkündet, dass er schon immer an den „Gott des Gemetzels“geglaubt hat – und dass man seine niederen Beweggründe nicht immer in Zaum halten kann. Und je mehr Whiskey fließt und desto später der Nachmittag wird, desto mehr brechen diese niederen Beweggründe hervor.

„Die Moral schreibt uns vor, unsere Triebe zu beherrschen, aber manchmal will man ihnen freien Lauf lassen.“ Alan Cowan

Die beste schauspielerische Leistung in dem Quartett liefert Jodie Foster ab, die die heimlich frustrierte Menschenrechtsverfechterin Penelope Longstreet und ihre ständigen Anfälle von Gehässigkeit und unterdrückter Wut fantastisch darstellt. Auch John C. Reilly, der einzige im Haupt-Cast, der noch keinen Oscar gewonnen hat (Nominierung 2003 für den besten Nebendarsteller in „Chicago“; er verlor an Chris Cooper in „Adaptation“), ist ebenfalls sehr gut besetzt. Recht austauschbar dagegen bleibt Christoph Waltz, der immer noch zu gern Ableger des Hans Landa in „Inglourious Basterds“ darbietet. Allerdings steht ihm die Rolle des glatten Rechtsverdrehers, der einem Pharmazie-Konzern aus der Patsche helfen muss, sehr gut. Im Ganzen ist „Der Gott des Gemetzels“ unbedingt sehenswert – ein erschreckendes und gleichzeitig unwahrscheinlich amüsantes Kammerspiel über das unwahrscheinlich dünne Eis, auf dem wir jeden Tag tanzen – und den schwarzen, brodelnden See darunter.

DVD und Blu-ray bieten als Bonusmaterial nur Trailer, überflüssige Darstellerinformationen und vier deutsch untertitelte Interviews mit den Hauptdarstellern, die zwischen fünf und zehn Minuten lang sind und nur die üblichen Lobhudeleien auf die Kollegen und den Regisseur beinhalten. Weiteres Bonusmaterial, etwa über das Theaterstück auf dem der Film basiert, sucht man vergeblich. Selbst für ein einfaches Wendecover hat es nicht gereicht. Der Film ist jetzt im Handel erhältlich.
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„Der Gott des Gemetzels“ musste, obwohl er in New York spielt, in Paris gedreht werden. Grund: Regisseur Roman Polanski wird in den USA schon seit 1977 per Haftbefehl gesucht. Weshalb?

Teilnahme ab 18 Jahren. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.