Tyrannosaur - die verstörendste Lovestory des Jahres

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 14. Oktober 2011

Vor ein paar Jahren wollte Quentin Tarantino sich einen Volvo kaufen, weil er Angst hatte, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen. Er sprach mit einem Freund (angeblich niemand anderer als Sean Penn) darüber und der sagte ihm, dass man jedes normale Auto einem Stunt-Team geben könne und für etwa 15.000 Dollar könnten die es dann so umbauen, dass es „death proof“ wird. Tarantino machte daraus einen Film.

Als Stuart Beattie 17 war, nahm er ein Taxi vom Flughafen Sydney nach Hause. Dabei kam ihm die Idee, dass ein psychopathischer Mörder in einem Taxi sitzen könnte, während ihn der Fahrer nichts ahnend zum nächsten Opfer fährt. Er arbeitete seine Idee über 10 Jahre hinweg aus und schließlich verfilmte Michael Mann den Stoff - „Collateral“ war für zwei Oscars nominiert.

2004 stand der britische Schauspieler Paddy Considine für „My Summer Of Love“ vor der Kamera. Bei seinen Recherchen für die Rolle hörte er von einem Charity-Shop, in dem Leute betrunken auftauchen und ihre Wut an den Mitarbeitern auslassen. Eine der Frauen dort schloss immer die Ladentür und betete für die „Kunden“. Daraus entwickelte Considine die Figur Anita, die weibliche Hauptrolle in seinem ersten Kurzfilm „Dog Altogether“. Der Stoff war so erfolgreich, dass „Tyrannosaur - Eine Liebesgeschichte“ entstand. Kein Kurzfilm mehr, sondern mit einer Lauflänge von 89 Minuten, startete die Geschichte um eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem brutalen Alkoholiker und einer verstörten Angestellten (die in "Tyrannosaur" nicht mehr Anita, sondern Hannah heißt) am 13. Oktober 2011 in den deutschen Kinos. „Tyrannosaur“ ist der erste abendfüllende Spielfilm von Paddy Considine. Und der hat es in sich.

Bedrückend, fantastisch, schonungslos.

Joseph (Peter Mullan) ist um die fünfzig und vertrinkt seine Zeit in den schummrigen Pubs von Leeds. An sich ein gerechter und aufrichtiger Mann, hat er trotzdem, besonders nach dem ein oder anderen Bier, kein Problem damit, die Dinge mit Gewalt zu lösen, selbst jene, die gar keine Lösung erfordern. Tiefe Bindungen zu Menschen geht er kaum ein; seine Frau ist gestorben und sein bester Freund liegt auf dem Totenbett. Eines Abends tritt er grundlos auf seinen Hund ein. Als dieser daran stirbt, versinkt Joseph in Schuldgefühlen. Alles was er liebt, scheint zu verschwinden. Als drei Jugendliche, die er vorher verprügelt hat, Rache nehmen wollen, flieht er in einen Charity-Shop und versteckt sich hinter einem Kleiderständer. Hannah (Olivia Colman), die Inhaberin des Shops, nimmt sich seiner an und wird für ihn zu einem Licht in der Finsternis. Doch auch Hannah ist eine Frau mit Vergangenheit. Von ihrem Ehemann James (Eddie Marsan) erniedrigt, hat sie eine ähnliche Neigung zum Alkohol wie Joseph. Trotzdem ist sie das ganze Gegenteil von ihm – sie ist kontrolliert, warmherzig und liebevoll. Zwischen den beiden entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft, doch als Hannah schließlich vor ihrem Mann flüchten muss und bei Joseph Schutz sucht, werden die beiden auf eine harte Probe gestellt.

Schonungslos und tief berührend ist das Spielfilmdebüt von Paddy Considine ausgefallen. Ruhig erzählt und mit feinfühliger Hand inszeniert, entfaltet sich eine komplexe Geschichte über Verzweiflung, Hass und Vergebung. Leise Dramen wie „Tyrannosaur“ leben mehr noch als andere Filme von den Darstellern. Und was den Cast betrifft hat Paddy Considine sich auf ein gewisses Risiko eingelassen. Auch wenn sowohl Peter Mullan als auch Olivia Colman schon in dem Kurzfilm „Dog Altogether“ aufgetreten waren, der die Grundlage für „Tyrannosaur“ ist, so kennt man Peter Mullan - falls überhaupt - aus kleinen Rollen in „Trainspotting“, „Children Of Men“ oder „Braveheart“. Olivia Colman hat man fast ausschließlich in kleineren Rollen in TV-Serien und Komödien gesehen, wie etwa die der anzüglichen Kommissarin Doris Thatcher in „Hot Fuzz“. In diesem Film stand sie auch zusammen mit Paddy Considine vor der Kamera. Aber dieser hatte bei den Dreharbeiten zu „Dog Altogether“ das Potenzial der Schauspieler und auch seiner mit viel Liebe ausgearbeiteten Figuren erkannt. Kraftvoll, unerbittlich und manchmal unangenehm intensiv entfaltet sich die ganze unschöne Geschichte von „Tyrannosaur“ auf der Leinwand.

Auf große Spezialeffekte, Kranaufnahmen oder einen pompösen Sound verzichtet Considine. Trotzdem wirkt „Tyrannosaur“ immer ein Stück größer, als er aussieht. Da sieht man weite Einstellungen, die an einen Western erinnern und ruhige Kamerafahrten, die kommentarlos das Elend in den Sozialbauvierteln von Leeds einfangen. Ohne Pathos, ohne voyeuristische Ambitionen erzählt Considine eine Geschichte, vor der man am liebsten weglaufen würde, weil sie so verstörend, so realistisch, so schonungslos ist.

Das neu ausgerichtete Label „kino kontrovers“, das sich bisher auf DVD-Veröffentlichungen wie „Menschenfeind“, „Irreversible“ und „Ken Park“ beschränkte, befasst sich ab jetzt auch mit dem Kino. Und kontrovers ist „Tyrannosaur“ auf jeden Fall. Allerdings nicht so offensichtlich, wie es etwa „Die 120 Tage von Sodom“ war, oder „Zoo“. Viel unterschwelliger wird hier etwas angeprangert, das sehr im Argen liegt. „Tyrannosaur“ trägt seine Gesellschaftskritik nicht auf der Brust vor sich her, sondern lässt den Zuschauer selbst darauf kommen, dass das, was man sieht, real ist, jetzt und heute, so abschreckend es auch sein mag. Manche Menschen sind verloren – und in „Tyrannosaur“ ist jeder verloren. Keine Figur, auch keine Nebenrolle, die nicht auf die eine oder andere Art gescheitert wäre; keine Figur, mit der man nicht auch Mitleid haben könnte.

„Tyrannosaur“ wurde bei der Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival 2011 mit den Preisen für die beste Regie, den besten Hauptdarsteller und die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ein heißer Anwärter auf den Oscar nächstes Jahr ist er auch. Und das durchaus zu Recht. „Tyrannosaur“ ist kraftvoll und intensiv, betörend und verstörend, ein echter Ausnahmefilm, der keine Abstriche machen muss. Seit dem 13. Oktober ist „Tyrannosaur“ in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.