Von Designern, Mode und reiner Willkür

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 26. August 2011

Mode ist für gewöhnlich eine Form von Hässlichkeit – noch dazu eine so unerträgliche, dass man sie alle sechs Monate wechseln muss. Das sagte Oscar Wilde. Aber der exzentrische Dandy fiel oft durch seine Kleidung auf und galt bei vielen als verrückt. Wenn man sich Garderobe und Auftreten von Stilikone André Leon Talley ansieht, erkennt man jedoch schnell, dass Hochmut und Mode Geschwister sind - und Wahnsinn ein nicht allzu ferner Verwandter ist. Talley hat einen kleineren Auftritt in der Mode-Doku „The September Issue“. Darin beschwert er sich, dass es keine Schönheit mehr gibt und sein Auge danach dürstet.

Trägt der Teufel Prada?

Um ihn geht es in der Dokumentation jedoch nicht, sondern um Anna Wintour, die Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“. Sie war Vorbild für Meryl Streeps Rolle in „Der Teufel trägt Prada“ und gilt auf dem Modesektor als die einflussreichste Frau der Welt. Insider und Modefreaks scheren sich wenig darum, welchen Fummel Victoria Beckham trägt, oder worin sich Lenny Kravitz einwickelt – was Anna Wintour sagt, ist Gesetz, was sie trägt, trägt die Welt. Jedenfalls der Teil, der sich darum schert, was selbsternannte „Modegötter“ ihnen vorschreiben.

Halbwertzeit einer Designer-Kollektion: wenige Wochen

Im September werden die Kollektionen der Modemacher von Sommer auf Winter umgestellt. Deswegen ist die September-Ausgabe der „Vogue“ die wichtigste Ausgabe des wichtigsten Modemagazins der Welt. In dieser Branchenbibel sieht der Interessierte dann, was zu tragen ist, wenn man sich in dem Mikrokosmos aus Baumwolle und Satin nicht lächerlich machen will. „The September Issue“ begleitet die allmächtige Anna Wintour mehrere Monate lang und zeigt, dass sich manche Gerüchte bestätigen, die „Der Teufel trägt Prada“ um sie geschürt hat, andere wiederum nicht.

Referenzen: Geschmack, Genialität, Bauchgefühl

„Mode hat etwas an sich, das Leute in den Wahnsinn treibt“, sagt Wintour in „The September Issue“. Da hat sie wohl recht. In den Wahnsinn treibt sie zum Beispiel Tierschützer. Die bespritzen sie regelmäßig mit Kunstblut, weil sie gern Pelz trägt und das auch in der Zeitschrift propagiert. Aber die höchst disziplinierte Wintour reagiert darauf gar nicht. Sie wechselt das Outfit und weiter geht es nach Rom, Paris und London.

Wer gehofft hatte, aus „The September Issue“ Informationen ziehen zu können, die über den Wikipedia-Eintrag zu Wintour hinausgehen, wird wohl enttäuscht sein. Die 90-minütige Dokumentation hat an sich nur ein Ziel: zu beweisen, dass Anna Wintour die mächtigste Frau der Modebranche ist. Da wird hier mit einer knappen Handbewegung ein aufstrebender Designer vernichtet und dort erhält ein anderer die Chance seines Lebens. Alles auf gut Dünken einer Frau, die die Schule mit 16 verließ, eine Ausbildung in einem Warenhaus machte und heute in dem Ruf steht, keine zwei Sätze fehlerfrei formulieren zu können. Solche kompetenzmäßigen Unzulänglichkeiten sind ungewöhnlich für eine Chefredakteurin. Andererseits besteht schon eine normale Ausgabe der „Vogue“ zu über 50 % aus Werbung. Die September-Ausgabe dürfte wohl etwas mehr davon beinhalten. Irgendwie muss man die 832 Seiten ja füllen. So viele waren es 2007, als die Dokumentation gedreht wurde. Nie erschien eine Ausgabe eines Magazins, die mehr Seiten gehabt hätte. Zu der Werbung kommen noch die aufwendigen Photostrecken hinzu – viel redaktioneller Text ist in einer Ausgabe also nicht unbedingt zu finden. In einem Interview 1986 verriet Anna Wintour sogar: "Angesichts der Erfolge meiner Geschwister fühlte ich mich wie eine Versagerin. Sie waren superschlau, also arbeitete ich daran, dekorativ auszusehen". Grandiose Referenzen also. Zwei Jahre später wurde sie dann Chefredakteurin der „Vogue“ und somit die wichtigste Entscheidungsträgerin der 300 Milliarden Dollar schweren globalen Modeindustrie. Wintour verlässt sich dabei ganz und gar auf ihr Bauchgefühl und treibt unter anderem ihre langjährige Kreativ-Chefin Grace Coddington in den Wahnsinn. Die wird auch nicht müde zu erwähnen, dass sie und Wintour am gleichen Tag bei der amerikanischen „Vogue“ angefangen haben.

Im Schatten der Wintour: Grace Coddington

Neid und Enttäuschung schwingen bei jedem Wort, das die damals 68-Jährige sagt eindeutig mit. Und Regisseur R.J. Cutler fand das wohl so unterhaltsam, dass er irgendwann ganz vergessen hat, um wen es in seiner Dokumentation eigentlich geht. Coddington hat gefühlt mehr Zeit vor der Kamera, als Wintour selbst.

Einblicke in das Privatleben von Anna Wintour gibt es kaum. Nur ihre Tochter kommt kurz zu Wort und erklärt, dass es Wichtigeres gibt, als Mode. Ein erfrischendes Statement, das die eiserne Verbissenheit der Klamottenkönigin auflockert. In derselben Szene erntet Wintour vom Zuschauer auch gleich wieder Minuspunkte, als sie nicht genau weiß, wo ihre Tochter arbeitet. Womöglich war sie zu beschäftigt damit, allen wichtigen Designern mitzuteilen, dass sie aus der „Vogue“ verbannt werden, wenn sie es wagen sollten, einen Gastauftritt in „Der Teufel trägt Prada“ hinzulegen.

Böse Zungen, namentlich die von ihrer Vorgängerin Grace Mirabella, behaupten sogar, dass sie den Job als Chefredakteurin nur bekam, weil sie mit Geschäftsführer Si Newhouse ins Bett ging. Auf solch heikle Gerüchte geht die Dokumentation aber nicht ein. Alles bleibt brav an der Oberfläche, kritische Fragen stellt niemand. Alles worum es geht ist, einen Blick in die Büros der „Vogue“-Redaktion zu werfen, besonders in das von Anna Wintour. Das interessiert nicht viele Zuschauer, aber wer sich eine Dokumentation über die Chefredakteurin der „Vogue“ ansieht, wird wohl eine gewisse Modeaffinität an den Tag legen.

Offen bleibt die Frage, inwieweit „The September Issue“ eine PR-Inszenierung ist, denn das Bild, das von Wintour gezeichnet wird, ist alles in allem gar nicht so negativ. In ruhigen Momenten blitzt immer wieder Menschlichkeit hervor. Womöglich um zu widerlegen, dass sie ein Prada-tragender Teufel ist. Allerdings erschien sie auf der Premiere des Films in - natürlich - Prada.

Letztlich spielt es keine große Rolle, ob man die gesamte Modebranche mit ihren diktierten Trends als reinste Geldmacherei ohne Sinn und Verstand bezeichnet, oder ob man sich die obsoleten Designerfetzen vom Körper reißt, weil irgendjemand behauptet, man könne diesen Herbst kein Braun tragen – denn so kommentarlos der Machtkampf zwischen Wintour und Grace Coddington auch verfolgt wird, so wenig Meinung macht „The September Issue“. Jeder Zuschauer kann für sich selbst entscheiden, was von Mode zu halten ist. Polarisiert wird nichts. Auch Wintour nicht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb dieser Film nicht von einer modeverrückten Regisseurin gedreht wurde, die sich in diesen Strudel aus Stoff und Accessoires hineinreißen lässt - es ist möglich, dass Cutler letzten Endes derselben Meinung ist wie Heinrich Heine: Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern.

 „The September Issue“ ist jetzt auf DVD erhältlich.