Einer der großen Visionäre Hollywoods im Profil

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 18. Januar 2012

Der Wikipedia-Eintrag von Tarsem Dhandwar Singh besteht aus gerade einmal neun Sätzen. Das ist merkwürdig, denn der 1961 in Indien geborene Regisseur ist, abgesehen von Tim Burton, momentan der einzige große Visionär Hollywoods. Seine ersten Arbeiten waren, wie bei den meisten Regisseuren, Musikvideos und Werbespots. Sein Video zu REM's „Loosing My Religion“ gewann 1991 acht MTV Music Video Awards - darunter die Auszeichnung als „Video des Jahres“ - und einen Grammy. Es folgten populäre Werbespots für Konzerne wie Nike, Levi's und Pepsi. Für Letzteren drehte Tarsem, wie er oft nur genannt wird, einen dreiminütigen Spot im Kolosseum in Rom. Britney Spears, Beyoncé Knowles und Pink treffen dort als Gladiatorinnen aufeinander. Enrique Iglesias ist als Imperator zu sehen. Das eigentlich Bemerkenswerte ist aber nicht die Besetzung seiner Videos, sondern die Optik. Niemand kann so kreative, phantasievolle und ästhetische Bilder erschaffen, wie Tarsem Singh. Seine Filme sehen aus, als hätte man Tom Ford LSD und Buntstifte gegeben. Auf dem Internationalen Film- und Fernsehfestival in Köln, der „cologne conference“, stand Tarsem nun Rede und Antwort zu seinem bisherigen Werdegang, seinem Weg zur Filmemacherei und seinen Werken.

Kleiner Junge mit großen Visionen

Es ist ein ruhiger, charismatisch lächelnder Mann mit markantem Kinn, der am 30. September pünktlich um 17 Uhr den Kinosaal im Museum Ludwig in Köln betritt. Keine Menschentrauben umringen ihn, keine Fotografen, die ihn in ein Blitzlichtgewitter tauchen, keine Leibwächter, die die Mark Chapmans der Welt von ihm fern halten müssten. Frei von Starallüren geht er auf das Podium und begrüßt den Moderator. Erst da bemerkt die Menge, dass der Held der Stunde da ist. Tarsem trägt einen traditionell-indisch anmutenden Zweiteiler in orange und weiß. Dass er mittlerweile 50 Jahre alt ist, sieht man ihm nicht an. Viel mehr wirkt er im Laufe des Gesprächs oft wie ein kleiner Junge, der mit strahlenden Augen von seiner Leidenschaft erzählt und davon wie er um die Welt reist, immer auf der Suche nach schönen, neuen Orten, an denen man drehen könnte.

Gefragt ist er nach wie vor in der Werbebranche. An einem Tag, an dem er einen Werbespot dreht, so sagte er in einem Interview, verdient er mehr, als sein Vater in dreißig Jahren. Der war Luftfahrtingenieur in Indien und sagte Tarsem, als dieser mit 24 Jahren in die USA ging um in Pasadena zu studieren, dass er für ihn nicht mehr existiert.

Tarsems Talent blieb nicht lange ein Geheimnis. Eine Kontroverse verursachte er 1996: MTV Asia schrieb einen Werbespot aus, in dem es um verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln gehen sollte. Tarsem flog in den Nahen Osten, hängte eine Kamera über einen leeren Swimmingpool und bezahlte eine ansässige Familie dafür, dass er filmen durfte wie sie eine Ziege schächten. Er reichte den Vorschlag ein, aber MTV Asia hat sich nicht wieder bei ihm gemeldet. Niemals ausgestrahlt, verschwand der Spot in der Versenkung und ist heute nur noch auf Tarsems offizieller Homepage zu sehen. Eine kleine Auswahl seiner über 150 Werbespots findet man dort auch.

Das große Talent des Tarsem Singh sprach sich natürlich nicht nur in der Werbewelt herum und schließlich wurde er gefragt, ob er nicht „The Cell“ drehen wolle. Er wollte.

Sein erster Spielfilm führte Jennifer Lopez in die alptraumhafte Psyche eines Serienkillers. Da verschwimmen Realität und Phantasie zu einer Mixtur aus Abstraktem, Schönem und Schrecklichem. Obwohl die Figuren manches zu wünschen übrig lassen, wurde Tarsems Spielfilmdebüt im Jahr 2000 ein sehr erfolgreicher Film, der sogar eine Oscar-Nominierung für das beste Make-up bekam; der Award ging jedoch an „Der Grinch“. Die Kritiker waren gespaltener Meinung und bescheinigten dem Film mit Vince Vaughn und Vincent d' Onofrio in weiteren Rollen gern mangelnde Substanz. Einig war man sich jedoch, dass „The Cell“ ein visuell opulentes Werk ist und allein deshalb schon anzusehen sei.

Die Obsession des Tarsem Singh: „The Fall“

Danach stieg Tarsems Wert in der Werbewelt noch weiter. Aber in seinem Hinterkopf brütet eine andere Idee vor sich hin: er möchte ein Remake des bulgarischen Films „Yo Ho Ho“ von 1981 drehen. Der Gedanke kam ihm schon, kurz nachdem er Mitte der 80er in die USA kam. Aber es dauert noch zehn Jahre, bevor er mit den Vorbereitungen beginnen kann und noch einmal neun Jahre bis die Dreharbeiten beginnen. Weitere vier Jahre später ist der Film dann fertig: „The Fall“.

LSD und Buntstifte - das Phänomen Tarsem Singh - 2 Videos

Er erscheint sechs Jahre nach seinem Erstlingswerk „The Cell“, und spielt zum größten Teil in der farbenprächtigen Phantasie eines kleinen Mädchens. An Originalschauplätzen in je nach Quelle 18 bis 28 Ländern gedreht - Tarsem selbst weiß es auch nicht mehr genau -, musste er den Film selbst finanzieren, weil sich kein Studio fand, das ganz ohne Finanzierungs- oder Drehplan bereit gewesen wäre, Geld in ein Remake eines über 30 Jahre alten bulgarischen Films zu stecken. Unterstützung bekam er von zwei populären Freunden, Spike Jonze, Regisseur von „Adaptation.“ und „Being John Malkovich“ und Elite-Regisseur David Fincher („Sieben“, „The Social Network“, „Fight Club“), die dem Film so weit den Rücken stärkten, dass er, nachdem Tarsem finanziell schon fast ruiniert war, doch noch veröffentlicht werden konnte. 2006 feierte „The Fall“ seine Premiere auf dem Filmfestival in Toronto. Aber dann verschwand der Film in der Versenkung – erst im Mai 2008 kam er in den USA in ein gerade einmal neun Kinos. In Kanada erschien er nur auf DVD und in Deutschland wurde er erst 2009 gezeigt. Große Aufmerksamkeit gab es nie. Kein Wunder, war das Marketing-Budget doch praktisch nicht vorhanden. So avancierte „The Fall“ zum Geheimtipp. Auf bekannte Darsteller verzichtete Tarsem, nicht zuletzt, weil die Darsteller über Jahre hinweg immer mal wieder zu nicht planbaren Zeitpunkten abkömmlich sein mussten. Wann immer Tarsem irgendwo in der Welt einen Werbespot drehte, beorderte er danach manchmal den gesamten Stab von „The Fall“ dort hin und drehte eine weitere Szene zu dem Film, der seine Obsession wurde. Mit einem Brad Pitt, der nur zu gern mit ihm arbeiten würde, kann man so etwas nicht machen, daher setzt der Film statt auf einen großen Cast lieber auf eine unschuldige Geschichte und das vielleicht niedlichste kleine Mädchen in der Geschichte des Kinos. Deutliche Parallelen zu „Pans Labyrinth“ und besonders „Der Zauberer von Oz“ sind nicht zu übersehen. Aber wo „Der Zauberer von Oz“ ein reiner Kinderfilm war und „Pans Labyrinth“ viele Anspielungen für Erwachsene enthält, passt „The Fall“ weder in die eine noch in die andere Sparte – für Kinder war das Drehbuch zu brutal und für Erwachsene war es auf weiten Strecken zu infantil. Deshalb, und weil nach der Premiere auf dem Toronto Filmfestival viele Kritiker den Film zerrissen haben, fand sich kein Verleih, der den Film vermarkten wollte. So wurde „The Fall“ ein finanzielles Desaster – das Einspielergebnis lag bei wenigen Millionen Dollar. Tarsem hofft, so sagte er in mehreren Interviews, dass er nie wieder von einer Sache so eingenommen wird, wie dem Verlangen diesen einen Film zu vollenden. Stolz ist er darauf trotzdem.

Im November erscheint Tarsems dritter Film, „Krieg der Götter“, mit Mickey Rourke, John Hurt, Freida Pinto und Henry Cavill in der Hauptrolle. Während „The Fall“ vollständig auf CGI verzichtet und der Computer nur angeschmissen wurde um etwa unschöne Gebäude aus einzelnen Aufnahmen zu entfernen, strotzt „Krieg der Götter“ vor Computereffekten. Der 115 Millionen Dollar schwere Streifen schlägt in die momentan hoch im Kurs stehende Mythologie-Sparte und erscheint am 11. November.

Der Ästhetik-Profi fragt: Wer ist die Schönste im Land?

Das nächste Projekt, eine noch titellose Schneewittchen-Verfilmung steckt in der Post-Produktion und erscheint voraussichtlich am 5. April 2012. Der Cast kann sich sehen lassen: Als böse Königin tritt in ungewohnter und deshalb viel diskutierter Rolle Julia Roberts auf; als Schneewittchen wird die aus „Blind Side“ und „Atemlos“ bekannte Lily Collins (Tochter von Phil Collins) agieren. Sean Bean („Der Herr der Ringe“), Armie Hammer („The Social Network“) und Nathan Lane („Mäusejagd“) werden ebenfalls zu sehen sein. Doch sowohl „Krieg der Götter“ als auch das Schneewittchen-Projekt könnten ebenfalls floppen. Mit Mythologie/Götter-Filmen wird der Kinogänger dieser Tage nur so überhäuft und der Überdruss wächst immer mehr. Und was Schneewittchen angeht: in den nächsten zwei Jahren sollen nicht weniger als drei Adaptionen des Grimm-Märchens in die Kinos kommen. Universal bringt im Sommer „Snow White and the Huntsman“ in die Kinos - mit Kristen Stewart in der Titelrolle und Charlize Theron als böse Königin. Als weitere große Verfilmung des Stoffes droht Disney damit, seinen All-Time-Klassiker von 1937 neu aufzulegen. Aber das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen und wird möglicherweise wieder verworfen. Vielleicht sollte man darauf sogar hoffen, denn die Zwerge sollen als Shaolin-Mönche agieren. Ah, ja. Was, wenn nicht das?

Verkanntes Genie oder Effekthascher mit gutem Geschmack?

Komme was wolle, verhungern wird Tarsem Singh sicherlich trotzdem nicht. Die Werbebranche verlangt immer noch nach ihm und seinem einzigartigen, opulenten Stil. Selbst wenn die Kritiker recht haben und seine Filme abgesehen vom Optischen nichts zu bieten haben, so bleibt eben doch das „abgesehen von“ als Argument. Denn ein Film der gut aussieht, ist allein schon deshalb sehenswert. Niemand muss ein Genie sein. Horrorschreiberling Stephen King etwa wird ja auch permanent von den Kritikern niedergemacht und ist trotzdem der kommerziell erfolgreichste und meistgelesene Autor unserer Zeit. Und Tarsem könnte auf dem selben Weg sein. Andererseits: Amerikas Filmkritik-Guru Roger Ebert mochte „The Fall“ und bezeichnete „The Cell“ sogar als einen der besten Filme des Jahres. Darauf bildet sich Tarsem jedoch nichts ein. Ganz anders als sein Landsmann M. Night Shyamalan, der nach seinem Riesenerfolg „The Sixth Sense“ ein Ego entwickelte, das seine Kompetenzen deutlich übersteigt, bleibt Tarsem auf dem Boden. Gelassen, humorvoll und verspielt plaudert er auf der „cologne conference“ mit dem Fachpublikum, erzählt kleine Anekdoten und versprüht Charisma. Nachdem die Fragestunde vorbei ist, entschuldigt er sich, dass er nicht noch zur Vorführung von „The Fall“ und „The Cell“ bleiben kann, weil er den Kölner Filmpreis entgegen nehmen muss. Schon aus reiner Sympathie drückt man ihm die Daumen für seine nächsten Projekte und erwartet mit Spannung die nächsten Bilder seiner Schneewittchen-Interpretation. Mit Julia Roberts als böser Königin hat er auf jeden Fall schon einmal das Interesse vieler Kinogänger geweckt. Wie die Kritiken diesmal ausfallen, wird sich im Frühjahr zeigen. Aber Eines steht jetzt schon fest: Es wird umwerfend aussehen.

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