Liebes Dr. Sommer-Team...

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 3. September 2012

Bevor Doktor Sommer zur „Bravo“ kam, wurde in Deutschlands größtem Jugendmagazin gern gegen Selbstbefriedigung gehetzt. Blind, schwul und unfruchtbar mache die Onanie, wer Lust verspüre, solle kalt duschen gehen. Auch Homosexualität war ein Tabuthema. Aber die 60er setzten die „Bravo“ in Zugzwang - vor der erwachenden sexuellen Revolution die Augen verschließen, oder einen kompletten Richtungswechsel hinlegen? Man entschied sich für letzteres - und engagierte einen Mann, der als Kind vor den Nazis in den Wald floh und sein erstes Mal mit Ende 20 hatte: Martin Goldstein a.k.a. Dr. Jochen Sommer. Goldstein hatte sich mit dem Aufklärungsbuch „Anders als bei Schmetterlingen“ einen Namen gemacht und landete so 1969 bei der „Bravo“. Bis 1984 beantworteten er und sein Team wöchentlich bis zu 5000 Briefen. Von „Ist mein Penis zu klein?“ und „Bin ich schon bereit mit meinem Freund zu schlafen?“ bis „Wie hat man vor 100 Jahren verhütet?“ und „Wie eng muss ein Kondom sitzen?“ ging so ziemlich jede denkbare Frage zum Thema Sexualität bei dem Team ein. Goldstein nahm die Probleme der Pubertierenden ernst - und klärte eine ganze Generation auf. Noch heute geben viele an, von der „Bravo“ aufgeklärt worden zu sein.

Inzwischen ist die Auflage der „Bravo“ von 1,4 Millionen (1996) auf nicht einmal 400.000 gesunken. Schuld ist nicht das Ausscheiden Dr. Sommers, sondern wahrscheinlich eher die praktisch zwangsläufige Aufklärung, die mit der Internetnutzung einhergeht. Goldstein setzte sich 2000 zur Ruhe, schrieb noch ein Aufklärungsbuch und starb am Freitag nach langer Krankheit in einem Düsseldorfer Hospiz im Beisein seiner Lebensgefährtin und seiner drei Kinder.