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Wahr oder falsch? – Philip-Lorca diCorcia zeigt seine pseudo-realistische Fotografie in Frankfurt

von Portrait von Nina Loose Nina Loose
Veröffentlicht am 5. August 2013

Schirn Kunsthalle, Frankfurt. Ob nun ein Maler ein Bild malt, ein Autor ein Buch schreibt, ein Regisseur einen Film dreht – immer entsteht hieraus ein Werk der Fiktion. Und dessen Urheber schlüpft, um sein Publikum bei Laune zu halten, gekonnt in die Rolle eines Geschichtenerzählers. Dass auch ein Fotograf in dieser Hinsicht exzellieren könnte, war zwar lange Zeit umstritten. Doch mittlerweile ist nicht nur die Vielseitigkeit des Mediums bewiesen – Fotojournalismus auf der einen, künstlerische Fotografie auf der anderen Seite – sondern auch, dass sich die Fotografie ebenso gut wie andere Künste zur Narration eignet.

Einer, der die besagte Qualität schöpferisch ausnutzt, ist Philip-Lorca diCorcia, Jahrgang 1951, US-Amerikaner, Fotograf, Dozent und… Geschichtenerzähler. In Frankfurt gibt die Schirn Kunsthalle mit „Philip-Lorca diCorcia. Photographs 1975-2012“ erstmals einen Überblick über seine Bilder(geschichten). Zu sehen ist auch diCorcias aktuellste, noch nicht abgeschlossene Serie „East of Eden“, die ab Herbst bei seinem New Yorker Galeristen David Zwirner ausgestellt wird.

East of Eden

Sie bildet den Auftakt zu sechs Räumen, die je eine in sich geschlossene Fotoserie beherbergen. Demnach kommt es dem Besucher so vor, als durchliefe er nicht eine, sondern gleich sechs kleine, voneinander unabhängige Fotoausstellungen. In „East of Eden“ trägt sich diCorcia mit dem Gedanken, auf die jüngste Historie der USA anzuspielen, wozu er – mal verrätselt, mal offensichtlicher – den Topos vom verlorenen Paradies bemüht. Da steht eine Eva im neuzeitlichen Gewand lächelnd unter einem trostlosen Baumgerippe, da reitet ein Lonesome Cowboy über verdorrtes Terrain, da schauen sich zwei Rassehunde, umgeben von luxuriösem Wohnambiente, einen Pornofilm an. Einen Apfelbaum, der wie im Garten Eden reife Früchte trägt? Auch den verewigt der Fotograf, allerdings ohne eine Menschenseele, ohne Anzeichen von Zivilisation.

Wahr oder falsch? – Philip-Lorca diCorcia zeigt seine pseudo-realistische Fotografie in Frankfurt

„I build these photographs. I don’t really find them.“ (Philip-Lorca diCorcia)

DiCorcias wohl bekanntesten Porträts, den anonymen “Heads” (2000-2001), liegt ein ganz anderes Konzept zugrunde. Individuen entweichen hier scheinbar zufällig dem Passanten-Strom am Times Square und laufen dem Fotografen direkt vor seine Linse. Sodann werden ihr Habitus, ihre Mimik, ihr Blick im Close-Up vor schwarzem Hintergrund eingefroren. Was wie ein Zufall oder wie die Gunst der Stunde anmutet, wurde in Wahrheit hochgradig inszeniert. Durch künstliche Beleuchtung, durch einen präzise gewählten Bildausschnitt, in „Hustlers“ (1990-1992) sogar durch ein vom Künstler bestimmtes Setting und entsprechende Requisiten. Markant sind in diesem Kontext auch die Bilder der Reihe „Streetwork“, aufgenommen in den Metropolen Los Angeles, New York, Mexico City sowie Tokyo. Bis ins kleinste Detail choreografiert, haftet diesen Straßenszenen etwas Kinematografisches an. Vorn gerät das Pflaster zur Bühne; hinten formieren sich Häuserfassaden, Schilder und Verkehrsmittel zu einer bunten Kulisse. Würde hier und da ein Mikrofon ins Bild baumeln oder ein Clapperboard aufblitzen, man wäre nicht wirklich verwundert.

A Storybook Life

Die Täuschung des Betrachters gipfelt jedoch in dem Projekt „A Storybook Life“. Allein schon des Titels wegen suggeriert diese Werkgruppe einen Erzählfluss, wie wir ihn aus Biografien oder Fotoalben gewohnt sind. Das Interieur „Hartford“ (1978) zeigt beispielsweise ein festlich geschmücktes Wohnzimmer – vermutlich eine Erinnerung an längst vergangene Weihnachten im Kreise der Familie? Bei „Naples“ (1995) wiederum könnte es sich um einen intimen Schnappschuss von der Freundin handeln, so unbefangen wie diese den Mann hinter der Kamera anlacht. Unwillkürlich löst jedes der 76 Bilder eine neue Gedankenkette aus, immer wieder beginnt die Suche nach einem roten Faden, nach einer Chronologie, man könnte sagen nach der Wahrheit. Doch verläuft sie im Sand und man begreift: In einer Geschichte, zumal so gut erzählt wie „A Storybook Life“ von Philip-Lorca diCorcia, ist das Wahre nur schwer zu fassen.

„Philip-Lorca diCorcia. Photographs 1975-2012“ ist noch bis zum 8. September 2013 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen.