WM-Auftakt in Brasilien: Neymars heroischer Hype und der düstere Schatten namens FIFA

von Portrait von Marlon Kumar Marlon Kumar
Veröffentlicht am 13. Juni 2014

"Wir hatten Pelé, wir hatten Ronaldo, wir hatten Romario, Rivaldo und Ronaldinho aber einen wie Neymar hatten wir noch nie." Die Vergleiche von Brasiliens Trainer Luiz-Felipe Scolari nach dem 3:1 Erfolg im WM-Auftaktspiel gegen Gruppengegner Kroatien sind gewagt, überheblich und nach einem einzigen WM-Spiel äußerst ungerechtfertigt und absurd. Der 66-Jährige Coach verleiht dem sowieso schon übertriebenen Volkshype rund um Neymar da Silva Santos Júnior, dem zierlichen Stürmer mit dem Vokuhila, ein neues, umso bedeutenderes Gesicht: das eines glorreichen Helden, der seine längst antiquierten Urväter, Olympe und Idole aus vergessenen Zeitaltern in den Schatten stellt. Was nach antikem Epos oder klischeebesudelter Hollywood-Fantasy klingt, könnte nichts weiter als eine wohl überlegte, aber dennoch törichte Farce sein. Brasiliens Volk braucht eine Identifikationsfigur für diese WM, ein Symbol, auf das sich die erhitzten Gemüter nach den FIFA-Korruptions- und Ausbeutungsskandalen stützen und verlassen können. Denn eine fußballerische Heldenverehrung göttlichen Ausmaßes ist nicht nur schon immer brasilianische Mentalität gewesen, sondern könnte auch der Einigung des Landes dienen - wenn Proteste, Tumulte und Chaos (die dem Fußballgeschehen derzeit einen faden Beigeschmack liefern) durch die Aufmerksamkeit des Heroen zu Nebensächlichkeiten verdammt werden.

Ist ja auch schön nebensächlich, wenn zum Beispiel mitten im Regenwald in der Stadt Manaus ein Stadion für umgerechnet 206 Millionen Euro gebaut wird, das dann gerade mal vier WM-Spiele austrägt und die Gelder ebenso gut soziales Ungleichgewicht bekämpfen oder für Bildung ausgegeben werden könnten. Und dazu kommt auch noch die Steuerfreiheit der FIFA-Vertragspartner wie Coca-Cola, Adidas oder Visa per Gesetz. Wer kommt für die entstehenden Kosten auf? Der brasilianische Bürger? Für Brasilien bahnt sich das gleiche Szenario wie für Südafrika an: Ein Versprechen auf prosperierende Wirtschaft, das mit einem riesigen Schuldenberg endet. Dass die Brasilianer nun einen Helden als Kristallisationspunkt brauchen und dass die FIFA die Aufmerksamkeit auf jemand anderes richten will, ist nach all den Strapazen aus der jeweiligen Sicht verständlich. Aber das auch die hiesige Medienlandschaft auf den Zug aufspringt und Neymar ins Göttliche konsekriert, ist dann doch eher fragwürdig. Hat denn keiner das Spiel gestern wirklich gesehen?

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Neymar hatte zwei, drei gute Szenen, darunter sein genial platziertes Ausgleichstor zum 1:1. Den Foulelfmeter, der keiner war, hat er zwar gut geschossen, aber glücklich und mit Ach und Krach verwandelt. Er lieferte mit zwei Toren definitiv eine gute Leistung ab, aber da gab es andere Spieler, die das brasilianische Spiel deutlich mehr beeinflusst haben. Zum Beispiel Chelseas Offensivtechniker Oscar, der mit einigen Aktionen viel Dynamik ins südamerikanische System brachte und Gefahr vor dem gegnerischen Tor ausstrahlte. Schließlich wurde er für seine Leistung sogar noch mit einem Tor mit der - im Jargon oft verpöhnten, aber bei technisch versierten Spielern zur Genialität neigenden und tatsächlich als hohe Kunst geltenden - 'Picke' (oder 'Pieke' – Schuss mit der Fußspitze) belohnt. Oscar hat aber anscheinend nicht die passende Popstar-Attitüde, um als Marketingpersönlichkeit und Halbgott zu fungieren.

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Generell ist der Hype um Neymar nach wie vor nicht so ganz nachvollziehbar. In der brasilianischen Liga zu glänzen ist schön und gut, sollte aber nicht überbewertet werden – denn es ist immer noch die brasilianische Liga. Bei Barcelona ist er bis dato auch nicht so richtig eingeschlagen, zumindest im Verhältnis zu seiner Ablösesumme und der religiösen Verehrung. Dennoch, auch wenn er es in Europa bisher nicht ausschlaggebend zeigen konnte, ist er ein brillanter Fußballer, von dem wir noch einiges sehen werden. Nur wird er den ganzen Vergleichen und dem Hype zu jetziger Zeit einfach noch nicht gerecht.

Und das bringt uns zum nächsten Punkt: Brasilien hat meisterliche Individualspieler, aber das Kollektiv als Ganzes harmonierte gestern stellenweise noch nicht. Diese hapernden Stellen werden dem Team noch einiges an Kopfzerbrechen garantieren. Vor allem in der Defensive kam es vermehrt zu leichteren Schnitzern und Kommunikationsproblemen. Auch das Aufbauspiel ist verbesserungswürdig, die erste halbe Stunde wurde der Ball in der eigenen Hälfte ohne ersichtliche Ideen nach links und rechts geschoben. Darüber hinaus wurde kein Tor wirklich herausgespielt. Wenn auch berücksichtigt werden muss, dass es ein WM-Auftaktspiel war. Das heißt: Über eine Milliarde Menschen (sogar die Astronauten auf der ISS) haben zugeschaut und der Druck für den Gastgeber und Favoriten war dementsprechend gigantisch.

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Nur was ist, wenn offensivstarke und ballverliebte Mannschaften wie Spanien, die Niederlande oder Deutschland auf die Selecao treffen? Es gibt genug starke Mannschaften bei dieser WM, es ist allgemeines Gesprächsthema, dass der Fußball sich immens weiterentwickelt hat - jeder kann tatsächlich jeden schlagen. Basta. Und mit Kamerun und Mexiko warten noch zwei spritzige und nicht zu unterschätzende Gegner auf die Brasilianer. Von einem Durchmarsch kann nicht die Rede sein. Es hätte gestern Abend tatsächlich auch anders ausgehen können, die Kroaten haben ein solide Leistung abgeliefert und mehrere Stiche gesetzt. Aber das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Der Funke ist nach dem 3:1 übergesprungen und die Brasilianer werden mit viel Selbstvertrauen in die nächste Partie gehen. Allerdings jetzt schon von einer Gala oder einem sicheren Titelgewinn zu sprechen, ist völliger Unsinn. Denn nach dem energisch-patriotischen Schmettern der Nationalhymne blieb das Pathos auf dem Platz bis jetzt noch ein wenig blass.

Bleibt nur noch zu sagen, dass die FIFA einer der größten und skrupellosesten Monopolisten der Welt ist. Die Menschen in Brasilien und deren Leid sind anscheinend unwichtig, solange Funktionäre und Sponsoren in Geld baden wie Dagobert Duck. Wir sollten uns stets daran erinnern, dass der Sport Fußball an sich, nichts weiter als ein Markt ist, der von der FIFA kontrolliert und reguliert wird. Es geht hier einzig und allein um Wirtschaftsinteresseren, auch wenn im Vordergrund die sportliche Leistung und die Vernetzung der Welt durch Fußball genannt wird. Die FIFA ist ein riesiges, allumfassendes Lobbyisten-Kartell, das seinesgleichen sucht und sogar erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung des austragenden Landes hat (Brasiliens rechtlich determiniertes Alkoholverbot wurde wegen FIFAs Hauptsponsor Budweiser aufgehoben). Traurig, dass der Zauber des Fußballs durch die totale Kommerzialisierung und die unfassbare Gier einiger privilegierter Aristokraten so in Mitleidenschaft gezogen wird und das ethisch-moralische Werte in der Organisation dank dieses darwinistischen Raubkapitalismus so an Bedeutung verloren haben.