Was uns bewegt – Die biologische Uhr und andere Druckmittel dieser Gesellschaft

von Portrait von Melek Yaprak Melek Yaprak
Veröffentlicht am 1. Dezember 2014

Ein weiteres Jahr geht dem Ende zu. Schon wieder ist Weihnachten. Der Winter treibt alle Menschen in die Häuser. Die Tage rasen in einer unerbittlichen Geschwindigkeit an uns vorbei. Sie sind vollgestopft mit Überlebenspraktiken, mit Arbeit, mit Putzen. Auf Türkisch gibt es ein Sprichwort: „Ücgünlük hayat“, was übersetzt soviel heißt, wie „Das Leben dauert nur einen Augenblick“. Morgen ist man schon 60 Jahre alt, übermorgen 98. Und weil das so schnell geht, und ich noch das Maximum aus meinem Leben rauschlagen will, trete ich aus. Ich trete aus diesem Hamsterrad aus und begebe mich dadurch in eine Gefahrenzone. Mein neuer Sport heißt: Im Jetzt leben. Doch die Gesellschaft warnt mich stetig. Ich solle doch ein bisschen mehr an die Zukunft denken, Geld sparen und Versicherungen abschließen. Ich solle nicht so oft die Jobs wechseln und überhaupt: Wann wolle ich denn noch Kinder gebären? Mit Mitte dreißig zähle man ja schon zu den Risikogefährdeten. Die biologische Uhr ticke und es grenze an Dummheit, einen Kinderwunsch lange hinauszuzögern. Egal, wie entspannt man bei so einem Druck zu bleiben versucht, man spürt ihn überall. Eines hat man nämlich nicht in der Hand: Die Zeit, die wie Wasser durch die Finger rinnt.

Wie darf ich mir eigentlich diese drecksbiologische Uhr vorstellen? Eine Digitalanzeige integriert in meinem Eierstock, die bis kurz vor zwölf runterzählt und dann einen Höllenalarm macht, wenn der Zeitpunkt der Fortpflanzung überschritten ist? Eine imaginäre Erfindung unserer Gesellschaft, oder reine Panikmache in deutschen Informationsblättern, wie einst im Spiegel mit dem Titel „Späte Eltern – Vom Kinderkriegen in der zweiten Lebenshälfte“. Statistiken, Expertenmeinungen, medizinische Studien, ich lese sie alle. Das lässt mich an meiner „Ich-lebe-jetzt“-Theorie zweifeln. Ich bewundere diejenigen, die immer schon wussten, was sie wollen, und vor allem, wann sie es wollen. Ich beneide Menschen, die einen Plan im Leben haben und einem Schema folgen, ganz klar definiert wie: Abi, Ausbildung, Heirat, Haus, Kinder. - Wie toll! Wie einfach! Wie... überhaupt nicht ich! In welcher Statistik tauche ich eigentlich auf? Vielleicht in gar keiner, und man kehrt mich unter den Teppich der „Generation Maybe“. Ja, vielleicht bin ich ein Maybe. Ja, ich habe studiert, sechs lange Jahre, aber nicht, weil ich Karriere in einer Führungsposition in einem Glasbüro machen wollte, sondern weil ich das Leben und all die Vorteile als Student genießen wollte. Ja, ich wusste von Anfang an, ich würde nicht in meinem studierten Beruf arbeiten, und ja, nach dem Studium bin ich erst einmal in ein tiefes Loch gefallen. Ist auch nicht leicht sich zu finden in dieser Gesellschaft von sich selbst überholender Technologie, unaussprechbaren Berufsbezeichnungen und AssessmentCentern. Die Umstellung Studium aufs Berufsleben ist herausfordernd. Plötzlich ist man auf sich selbst gestellt, die Krankenkasse will Kohle, man zahlt Unmengen von Geldern, deklariert Steuern, die GEZ stellt sich als Mafia heraus, die einen existenziell vernichten will. Ehe man sich versieht, läuft man unermüdlich in einem Hamsterrad, das Leben bumst einen ohne Gnade. Als Individualist ertrinkt man fast im Strudel des gesellschaftlichen Drucks, es sei denn, du bist eine coole tätowierte Sau mit eigenem bombastisch laufenden TattooStudio.

Bin ich nicht. Ich bin auch nicht das, was ich studiert habe. Also, was bin ich? Muss ich denn unbedingt etwas sein? Ich habe es versucht, ich habe jahrelang versucht, acht Komma fünf Stunden an einem Tisch in einem staubigen Büro zu sitzen, in einen Flimmerkasten zu glotzen und mit minder sinnvollen Dingen mein Geld zu verdienen. Irgendwann hatte ich keinen Bock mehr ein Hamster zu sein, und habe dem System meine beiden Mittelfinger gezeigt. Wenn man nicht gerade zu den Menschen gehört, die ihrer Arbeit voller Leidenschaft und Aufopferung nachgehen, sind diese acht Komma fünf Stunden, fünfmal die Woche, die reinste Lebenszeitverschwendung!

Entschleunigung, das ist mein neues Mantra. Ich brauche mehr Lebenszeit für meine Träume. Ich wünsche mir morgens 30 Minuten länger zu schlafen, und am Wochenende einen zusätzlichen Sonntag. Ich möchte nicht mehr mit einer Geschwindigkeit durch dieses Leben rasen, dass einem schlecht wird. Ich lasse alles hinter mir, und habe alles vor mir. Bis zum heutigen Tag habe ich in einer so unfassbar revolutionären Zeit gelebt, in einer der wohl signifikantesten Umwandlungsphasen dieser Welt: Von analog auf digital, von Tastatur auf Touchscreen, von Vinyl auf Traktor, vom Jäger zum Meister. Alles stürmt auf uns ein, alles muss schneller gehen für weniger Geld, alt werden ist unsexy. Der Gedanke ans Älterwerden kann so beängstigend sein, und für Frauen doppelt belastend, da braucht man nicht noch mehr Druck von der Gesellschaft! Entschleunigung. Das klappt wunderbar, während meiner YogaStunde, in der Sauna oder auf dem Gipfel des Himalaya. Aber da draußen muss man stark sein, und sich nicht unter Druck setzen lassen. Wer Sicherheit will, bezahlt diese mit Lebenszeit und der ständigen Angst, morgen ohne Arbeit zu sein, wenn man jetzt den verhassten Job kündigte. Aber will man seine kostbare Lebenszeit wirklich mit etwas verbringen, was einen nicht glücklich macht? In dem Buch „The Top Five Regrets of the Dying“ von Bronnie Ware steht gleich an Platz zwei das Bedauern: „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“. Denn „Üc günlük hayat bu“ – Das Leben dauert doch nur einen Augenblick.