YouTube und der virale Stumpfsinn: Prancercise ist der neue Harlem Shake

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 10. Juni 2013

Auf YouTube gibt es den blödesten Müll, den man sich denken kann. Hauptsächlich, weil grade jene Leute Videos hochladen, die nichts anderes zu tun haben und sich freuen, wenn sie ihre geistige Leere jedermann zugänglich machen können. Manchmal aber werden ein paar dieser fragwürdigen Videos viral und erreichen dann ein mehr oder minder begeistertes Millionenpublikum, das es unsagbar witzig findet, wenn ein Baby in die Hand seines älteren Bruders beißt, oder irgendwelche Katzen irgendwo irgendwas machen. In letzter Zeit wurden üblicherweise eigensinnige Tanzstile zu viralen Hypes - erst Gangnam Style, dann der Harlem Shake. Aber jetzt ist mit den Aerobic-Übungen von Joanna Rohrback mal ein privates Video zum Hit geworden.

YouTube und der virale Stumpfsinn: Prancercise ist der neue Harlem Shake

Alte Frauen in zu engen Hosen, die grenzdebil über die Straßen ihrer gepflegten Vororte hüpfen und das dann für ein Work-Out halten. Das kann man lustig finden; muss man aber nicht. In der Tat spricht die Viralität solcher Videos Bände bezüglich unserer Zeit, unserer Kultur, unserer Gesellschaft. Alle beklagen sich, dass die Welt inzwischen ach so hektisch sei, keiner hat mehr Zeit für irgendetwas - aber alle Welt verschwendet sie bereitwillig auf YouTube. Fünf Minuten lang ist das Video von Joanna Rohrback. 300 Sekunden. Eine Zeitspanne, in der man so viel Nützliches hätte tun können. Bei einem Vergleichsportal nachsehen, ob es günstigere Stromanbieter gibt, zum Beispiel. Oder den Geschirrspüler ausräumen. Stattdessen häufen sich inzwischen, wie es bei viralen Videos immer ist, die Nachahmer-Videos. Da gibt es dann also jemanden, der so unglaublich wenig zu tun hat, dass er sich nicht nur das Video von Joanna Rohrback angesehen hat, sondern danach auch noch seine eigene Version davon hochlädt.

Was stimmt nicht mit uns, die wir uns diese Videos ansehen? Sind wir alle verblödet? Ist die Welt so hart und grausam, dass wir uns mit immer dämlicheren Dingen ablenken müssen? Reicht RTL nicht mehr? In einem drei Jahre alten Artikel der Süddeutschen wurde auf die Studie des amerikanischen Psychologen Joseph Ferrari hingewiesen, der feststellte, dass wir unter anderem deshalb auf YouTube herumklicken, weil wir dann nichts anderes machen können:

So hat der Psychologe Joseph Ferrari von der DePaul University in Chicago 4000 Menschen nach ihren Arbeitsmustern befragt und kam zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent von ihnen so stark an Zerstreuung, Zeitverschwendung und Aufschubtechniken leide, dass er darauf drängt, procrastination (chronisches Verschieben) als medizinischen Terminus einzuführen, schließlich würden darunter mehr Menschen leiden als an Depressionen.

Wir lenken uns also bewusst ab - um andere Dinge aufzuschieben. Das ist keine Zerstreuung mehr, sondern eine Psycho-Macke. Und da so viele darunter leiden, kommen jetzt in immer kürzeren Abständen solche YouTube-Videos im „Angesagt“-Ranking nach oben. Einer findet es lustig, postet es in irgendeinem sozialen Netzwerk und schon, wozu hat man 800 Freunde bei Facebook?, hat sich das Video ausgebreitet wie ein Virus. Der Break-Even-Point, der für ein selbstständig-virales Video erreicht werden muss, sinkt durch die immer bessere Vernetzung der Gesellschaft immer weiter nach unten.

Und irgendwann hat jeder alles gesehen? Könnte man meinen. Aber dazu kann es nicht kommen - 2007 wurde pro Minute durchschnittlichen acht Stunden Video-Material auf YouTube hochgeladen. Im letzten Jahr waren es schon 72 Stunden pro Minute. Niemand kan also jemals alle YouTube-Videos sehen. Verbringt man einen Tag damit, sich durch neue Videos zu klicken, hat man danach trotzdem neues Material vorliegen, für das man 12 Jahre bräuchte, um es sich anzusehen (abzüglich der 24 Stunden, die man grade eben angesehen hat). Tendenz: Deutlich steigend.

Jedes Mal, wenn wir auf YouTube gehen, sollte man sich als reflektierender Mensch a.k.a. Nutzer eine simple Frage stellen: Wie wahrscheinlich ist es, dass mir dieses Video etwas Nachhaltiges vermittelt, mir bei einer Entscheidung hilft, oder mein Leben sonstwie voranbringt? Wie oft ist das der Fall? Genau.