Wie Tom Bohn seinen Film Reality XL ohne Verleiher in die Kinos brachte
Veröffentlicht am 2. Februar 2012
Thomas Bohn scheute kein Risiko – er löste seine Lebensversicherung auf um „Reality XL“ zu finanzieren, holte sich reihenweise Absagen bei den Verleihern, bettelte bei den Kinobetreibern und faltete von Hand 20.000 Programmhefte in seiner Garage. Wann haben Christopher Nolan und Michael Bay das wohl zuletzt gemacht? Mit Herzblut, Schweiß und Tränen hat er sein Drehbuch realisiert und den Film sogar ohne Verleiher ins Kino gebracht. Er hofft, dass seinem Beispiele viele folgen und die komatöse deutsche Filmindustrie endlich mal den Mut aufbringt, den Zuschauern Intelligenz zuzusprechen.
Am Abend des 13. Januar 2011 betraten 24 Wissenschaftler den Kontrollraum des Teilchenbeschleunigers LHC im Kernforschungsinstitut CERN. Bei Schichtende ist nur noch einer von ihnen da. Die anderen sind verschwunden, aus einem fensterlosen Raum ohne Versteckmöglichkeit. Und die Kamera am Ausgang des Kontrollraums hat nicht verdächtiges aufgezeichnet. Der einzige Überlebende, oder viel mehr „noch Existente“ jener mysteriösen Nachtschicht ist Professor Konstantin Carus (Heiner Lauterbach). Er wird von zwei Vertretern der Schweizer Staatsanwaltschaft verhört. Doch auf Fragen wie „Wo sind Ihre Kollegen?“ und „Was ist passiert?“ antwortet der nur ausweichend mit quantenphysikalischen Theorien. Nach und nach wird aber klar, dass die Realität nicht so ist, wie sie scheint. Weder im Verhörraum, noch irgendwo anders. Warum ist die Tür, durch die Carus anfangs hereinkam, plötzlich an einer anderen Stelle? Warum tippt im Hintergrund ein seltsamer Mann namens Antoine jedes Wort und auch jede Handlung in einen antiken Computer? Und was hat es mit Carus' Behauptung auf sich, die Welt, wie wir sie sehen, wäre nur eine Art Traum, der verschwindet, sobald wir nicht mehr hinschauen?
Carus: „Die Realität, die mich umgibt, wird von mir gemacht!“
Die deutsche Film- und Fernsehindustrie ist ein hirnzellenfressender Sumpf aus Hartz-4-Soaps, Berliner Schule, Elends-Voyeurismus und als Castingshows getarnte Zirkusnummern. Jeder weiß das. Aber jeder Produzent fürchtet um seinen Schreibtisch und setzt daher lieber auf vermeintlich quotensicheren Entertainment-Durchfall, statt mal was zu riskieren und etwas Neues zu probieren. Das hatte Thomas Bohn satt. Er schrieb ein cleveres kleines Kammerspiel mit vier Schauspielern und tat was er konnte, um seinen Film machen zu können.
Objektiv betrachtet ist das Ergebnis kein Knüller. Der „knackige Ami-Look“, den Bohn in seinem Blog versprochen hatte, muss wohl irgendwo auf der Strecke geblieben sein. Die Dialoge kommen hier und da arg aufgesetzt daher und im Großen und Ganzen wirkt „Reality XL“ ungelenk und zu gewollt. Was etwa das ganze Plotkonstrukt mit Teilchenbeschleuniger und Doppelspaltversuch eigentlich beweisen soll, bleibt unbeantwortet. Statt eines einfachen genialen Wissenschaftlers, der die Theorie kurz darlegt, verstrickt sich Bohn in vermeintliche Mordfälle und unnötige Eskapaden mit Quanten und Energie. Die Theorie in seinem Film: es gibt keine Materie, sondern nur kleinste Teilchen, die aus Energie bestehen. Und die kann man beeinflussen – durch die Energieform der Willenskraft. Das klingt erst einmal nach einem billigen Zaubertrick, wird aber, wenn man sich darauf einlässt, zu einem – für Deutschland – innovativen Plot.
Was „Reality XL“ trotz vorherrschender Mittelmäßigkeit zu etwas Besonderem macht, ist die dichter werdende Erzählweise und der recht clevere Schluss. Auch hier erfindet „Reality XL“ das Rad nicht neu; während das Intro stark an „Fight Club“ erinnert, ist das Ende „Inception“ recht ähnlich. Dennoch: Bohn stellt die Wirklichkeit effektvoll in Frage und führt den Zuschauer in die Tiefen des gern zitierten Kaninchenbaus. Das surreal-sterile Setting, das er in einer riesigen Satellitenanlage aufgebaut hat, tut ein Übriges um den Zuschauer aus der „Realität“ zu reißen.
"Wir stehen in unserer Branche nicht nur vor starken Veränderungen, sondern vor einem gewaltigen Umbruch" - Thomas Bohn
Erwähnenswert ist neben dem Film selbst auch der Blog, den Bohn nicht nur während der Dreharbeiten schrieb, sondern als Tagebuch nutzte, um von Beginn an, schon bevor die erste Drehbuchfassung fertig war, die Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Independent-Filmens darzustellen. Dabei scheute er sich weder Namen zu nennen, noch Sachverhalte klar darzustellen. Etwa seine Probleme, einen Verleiher zu finden: Die müssen gleich nachdem sie das Drehbuch gelesen haben, eine Garantie geben, dass sie den Film ins Kino bringen, egal welchen Blödsinn der Regisseur am Ende abliefert. Und ein nicht geförderter Film wie „Reality XL“ steht natürlich ganz hinten in der langen Reihe der etwa 200 deutschen Filme die an den 52 Donnerstagen im Jahr anlaufen. Nur etwa 35 davon laufen länger als eine Woche. Letzten Endes hat er den Film selbst in die Kinos gebracht. Auch die vielen kleinen Rückschläge einer unabhängigen Filmproduktion protokolliert er gewissenhaft – wie er die gesamte Crew, inklusive der Schauspieler auf Rückstellung arbeiten lassen musste, sie also erst bezahlt werden, wenn der Film seine Produktionskosten wieder eingespielt hat; welche Schikanen die Sozialversicherung bei den Arbeitsverträgen mit sich bringt, und wie oft er einen neuen Line Producer finden musste.
Dass deutsche Filme einen schlechten Ruf haben, musste Thomas Bohn schon an eigenem Leib erfahren: Obwohl er 1999 Dennis Hopper, Heino Ferch, Katja Flint und Ulrich Mühe für seinen Kinofilm „Straight Shooter“ engagieren konnte, floppte der Film an den Kinokassen. Und das, obwohl es sich um ein gradliniges, solides Stück Action-Kino handelt. Für Deutschland hofft Bohn auf eine Revolution: „Wir stehen in unserer Branche nicht nur vor starken Veränderungen, sondern vor einem gewaltigen Umbruch“, schreibt er in seinem Blog. Auf diesen Umbruch warten viele – Regisseure, Kritiker, Verleiher und natürlich auch die Zuschauer. Die vermeintliche Fernsehrealität, die uns die Produzenten von RTL und Co. einreden wollen, kann kaum noch jemand ertragen. Mit „Reality XL“ hat es Bohn jedenfalls geschafft, zu beweisen, dass man mit sehr kleinem Budget einen Film planen, produzieren, drehen, schneiden, vermarkten und in die Kinos bringen kann – ganz ohne sein Werk durch die Mühlen der üblichen Vertriebswege zu schicken und am Ende festzustellen, dass man den selben Schwachsinn fabrizieren musste, der schon seit 20 Jahren durch Müller's Wohnzimmer flimmert. Es ist Zeit für einen Umbruch. Wir sind hier. Wir warten.
"Reality XL" läuft ab 12. Januar 2012 in ausgewählten deutschen Kinos.
Wie eigentlich...macht man einen Independent-Film?