Chinesischer Regimekritiker floh nach Deutschland

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 1. Mai 2012

Er war schon vieles – Straßenmusiker, Teeverkäufer, Lastwagenfahrer. Auch Häftling, Volksverräter und mundtoter Aussätziger. Und Dichter. Das ist er noch immer.

Seit 2001 darf der Name „Liao Yiwu“ in den chinesischen Medien nicht mehr genannt werden. Er musste seine Manuskripte aus China herausschmuggeln lassen, damit er sie veröffentlichen konnte. Als die chinesischen Behörden ihm im Februar 2010 verboten auszureisen, um zur Lit. Cologne, dem internationalen Literaturfestival in Köln, zu kommen, wandte er sich in einem offenen Brief an Angela Merkel und bat um Hilfe. Dem Brief legte der Systemkritiker eine Raubkopie von „Das Leben der Anderen“ bei, einem Film der in China Kultstatus besitzt. Aber natürlich nur im Untergrund.

Das katastrophal gescheiterte „Großer Sprung nach vorn“-Programm, das die Volksrepublik China 1958 ausrief, verursachte eine Hungersnot, unter deren Folgen der ebenfalls 1958 in Westchina geborene Yiwu aufwuchs. 1966 wurde sein Vater als Revolutionsgegner angeklagt und ließ sich zum Schutz der Kinder von seiner Frau scheiden. Mit seiner Mutter lebte Yiwu in Armut, besuchte aber dennoch eine Schule und machte seinen High-School-Abschluss. In dieser Zeit begann er zu dichten und beschäftigte sich intensiv mit westlicher Lyrik. In den 80ern war Yiwu einer der wichtigsten, vielleicht sogar DER Avantgarde-Dichter Chinas. Die chinesischen Behörden indes betrachteten seine Arbeiten wie den Rest der westlichen und westlich geprägten Lyrik auch – als geistige Verschmutzung. Deswegen erschienen die meisten seiner Arbeiten nur in Untergrund-Zeitschriften und inoffiziellen Drucken. Aber je bekannter Yiwu wurde, desto öfter konnte er auch in offiziellen Literaturzeitschriften publizieren. Er war einer von ganz wenigen, die mehr oder weniger kritisches Gedankengut öffentlich äußern konnten. Ende der 80er war die Strenge der Zensur in China zeitweise relativ schwach ausgeprägt; einige nach heutigen Maßstäben sehr liberale Zeitungen wurden toleriert, ohne dass die allgegenwärtige Kommunistische Partei eingeschritten wäre. Aber dann wurde die Stimme der Revolutionäre und auch die Stimme Yiwus doch zu laut.

Als am 4. Juni 1989 eine Studentendemonstration auf dem Platz des himmlischen Friedens gewaltsam aufgelöst wurde und neben 7000 Verletzten auch 2600 Tote zu beklagen waren, schrieb Yiwu, damals 31 Jahre alt, noch am selben Abend das Gedicht „Massacre“ und sprach es, wissend, dass er es in China nicht würde veröffentlichen können, auf Tonband. Dafür wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Gedicht verbreitete sich über Raubkopiererringe und wurde auch außerhalb Chinas zum Mahnmal der Diktatur. Im Gefängnis widersetzte Yiwu sich beständig den Regeln und wurde von den Wärtern gefoltert. Aber gefoltert worden wäre er auch, wenn er sich an die Regeln gehalten hätte. Der Freigeist und Querdenker zerbrach fast im Gefängnis. Mehrere Zusammenbrüche, zwei Selbstmordversuche und fast vier Jahre später wurde er, 50 Tage vor Ende seiner Haftzeit, entlassen. Offiziell wegen guter Führung, effektiv wegen des öffentlichen Drucks, der auf China ausgeübt wurde. Freunde wandten sich von ihm ab; seine Frau verließ ihn mit dem Kind. Als gesellschaftlicher Bodensatz fristete er ein Dasein als Straßenmusiker. Aber er gab nicht auf, dichtete weiter und versuchte erfolglos zu publizieren. Zehnmal beantragte er einen Reisepass, 13 Mal wurde ihm die Ausreise verweigert. Vom Zoll zurück geschickt – ein Systemkritiker gefangen in der Diktatur.

2002 schrieb er „Interviews with People from the Bottom Rung of Society“, basierend auf Gesprächen, die er mit eben jenen Menschen der untersten Klasse über Jahre hinweg geführt hatte. In Deutschland erschien das Werk 2009 unter dem Titel „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. Es machte ihn in Europa und den USA praktisch über Nacht zu einem der bekanntesten Autoren Chinas.

Nachdem er 2009 nicht zur Frankfurter Buchmesse kommen durfte, obwohl er ein geladener Gast und China sogar das Gastland der Messe war, wurde ihm 2010 erstmals die Ausreise gewährt. Er kam nach Deutschland und war Gast des 10. Internationalen Literaturfestivals Berlin und des LiteraturRaums. Aber allen Qualen zum Trotz kehrte er danach nach China zurück, so wie er es in seinem Brief an die Kanzlerin versprochen hatte. Im Juli 2011 kam er erneut nach Deutschland um sein neuestes Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ vorzustellen, in dem er seine Zeit im Gefängnis verarbeitet. Die Kritiken lobten seine Beschreibungen als besonders bildhaft und bewegend.

Yiwu ist Träger verschiedener Literatur- und Menschenrechtspreise. Sein neuestes Werk „Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ wurde in China direkt nach der Veröffentlichung verboten. Um es zu publizieren floh er im Juli 2011 schließlich doch nach Deutschland, obwohl er nie vor hatte, China zu verlassen. In dem offenen Brief an Angela Merkel schrieb er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Autor, der seine Muttersprache verlässt, weiter arbeiten kann“. Ob er es kann, wird sich zeigen. Material hat er noch genug.

Derzeit lebt Liao Yiwu in Berlin. Wie es weitergeht, weiß er noch nicht. Viel schlimmer als damals kann es aber kaum werden.

 

Fotos: Elke Wetzig

 

Wer ist eigentlich dieser Liao Yiwu?