Blaue Moschee Istanbul
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Was uns bewegt - Melek aus Köln über ihr Istanbul

von Portrait von Melek Yaprak Melek Yaprak
Veröffentlicht am 7. Juli 2016

Wenn ich an Istanbul denke, denke ich an unaufhörliche, mich fast umbringende Sehnsucht. Ich denke an Fernweh, an Heimweh, an Fremde, an Heimat. Jedes Mal wieder verzaubert mich diese besondere Atmosphäre, der Blick auf den Bosporus und der Mix aus Orientalismus und Moderne. Istanbul katapultiert mich in emotionale Höhen und Tiefen. Die Stadt fasziniert mich mit ihrer anziehenden Schönheit, schlägt mir aber im nächsten Moment mit ihrer schmerzhaften Hässlichkeit ins Gesicht. Sie faucht, sie singt, sie tröstet, sie liebt, sie täuscht, sie lässt mich vereinsamen. Und dennoch knie ich immer wieder vor ihr nieder und möchte sie in ihrer königlichen Erhabenheit umarmen.

Was ist das Geheimnis dieser Stadt? Warum berauscht sie jedes Mal neu? Als ob sie mir eine Substanz ins Gesicht pustet, die mich betört und mich auf einer Wolke wegträgt. Und dann lässt sie mich doch wieder erbarmungslos fallen und lacht schadenfroh über meine Naivität.

In diesen Tagen schmerzt der Gedanke an meine Lieblingsmetropole. Mittlerweile muss ich in immer kürzer werdenden Abständen fragen, wie es meinen Freunden dort geht. Als Antwort bekomme ich meist eine Reaktion der Fassungslosigkeit. Sie wissen nicht mehr, was sie sagen sollen.

Meine Freundin Zemra und Inhaberin des Labels ZemZem Atelier lebt seit fünf Jahren in Istanbul. Die Schweiz hat sie für ihren Traum ZemZem verlassen. Selbst in schweren Zeiten wie diesen wird sie der Stadt nicht den Rücken kehren, wie vielleicht viele andere. In meinem Interview für das renk Magazin sagt sie, sie hoffe, dass die Menschen begreifen, dass es sich hier nicht um ein muslimisches, sondern um ein weltübergreifendes Problem handelt. Denn auf dem Atatürk Flughafen wurden gezielt auch Moslems angegriffen. Die istanbuler Kreativszene hält zusammen, sagt sie. Die Verarbeitung geht über lange gemeinsame Gespräche. Man macht sich Mut, man ist füreinander da, sie alle stehen hinter ihrer Stadt.


Plötzlich befinden sich also mir nahestehende Menschen in akuter Lebensgefahr. Das ist für mein europäisch ausgelegtes Gehirn nicht greifbar. In diesen Tagen fühle ich einen tiefen, wenn auch symbolischen Trennungsschmerz, den ich schon mal erlebte.

Als Kind einer Einwandererfamilie und somit unzähliger Erfahrungen, die man dadurch bewusst erlebt gestehe ich mir ein: Ein Besuch in Istanbul spiegelt jedes Mal meine Zerrissenheit und Entschlossenheit wieder. Die Zeit dort therapiert mich, weil genau die Knöpfe gedrückt werden, die wehtun. Die Türkei meiner Kindheit gibt es schon lange nicht mehr. Im Dorf meiner Großeltern nahe der syrischen Grenze gab es nichts, man durfte nichts, man hatte fast nichts. Damals ohne Internet, Computer, WhatsApp. Der alte Röhrenfernseher und der mitgenommenen Kassettenrekorder halfen mir bedingt über zeitliche Durststrecken hinweg – wenn nicht grad der Strom ausgefallen war. Nichtsdestotrotz wuchs man zusammen. Man wurde wieder eine Familie. Zumindest für sechs Wochen. Heute weiß ich die Zeit zu schätzen. Denn irgendwann kam eine schmerzhafte Trennung und ich bin nie wieder hingefahren.

In Istanbul ist alles möglich. Deshalb habe ich es mir als türkische „Ersatzheimat“ ausgesucht und entschloss vor einigen Jahren, dort zu leben. Ein Besuch in Istanbul zeigt mir oft, wie deutsch ich bin. Diese Stadt fordert mich immer wieder heraus, obwohl ich schon längst kein Tourist mehr bin. Hier wollte ich herausfinden, ob ich meine Sehnsucht nach Orientalismus stillen kann oder ob sie umschlägt in Resignation und daraus resultierender Einsicht, nicht mehr dazuzugehören. Noch mehr wollte ich wissen, was genau diese Stadt ausmacht jenseits von den Touristenknotenpunkten wie z. B. Sultanahmet oder Taksim.


Ich habe es ganz clever gemacht: Gewohnt habe ich bei der Familie vom Unilever Konzernchef im reichen Etiler. Bewegt habe ich mich mit den herausfordernden öffentlichen Verkehrsmittel bis an die ärmsten Grenzen der Stadt. Ich wollte Istanbul „çözmek“, also enträtseln. Was mir Istanbul zurückgab waren Extreme zwischen vollkommener Freude und bestürzender Trauer. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Armenier, der auf der asiatischen Seite Wächter vor einer armenischen Kirche war. Seine Kleidung war alt, seine Augen schauten mich traurig an. Es gäbe nicht mehr viele Kirchen wie diese in Istanbul sagte er. Mit seinem geringen Lohn versuchte er seine Familie zu ernähren. Er sah so süß aus in seiner gemusterten Wollweste auf diesem alten Holzstuhl. Das war mein erster Kontakt zu einem Armenier und die Kirche war wunderschön.

Zurück im Viertel der Reichen, Bebek, gehe ich mit meiner Freundin aus. 16 Euro kostet ein Longdrink im Club Reina. Das ist viel Geld für meinen neuen armenischen Freund. Die wohlhabende Gesellschaft amüsiert sich prächtig zu brutal schlechter Trashhouse-Musik und zeigt was sie hat: Knete ohne Ende. Ich komme zwar aus einem wohlhabenden Land, bin aber nicht wohlhabend. Diese Beobachtung beschäftigt mich noch lange an diesem Abend.

Hinter Etiler nahe einem Luxuseinkaufzentrum entstand damals ein neues „Gecekondu“. Laut Wikipedia: „Eine informelle Siedlung, ein ungeplantes Viertel mit primitiven Unterkünften am Rande einer Großstadt“. Übersetzt bedeutet es so viel wie „nachts hingestellt“. Mein Besuch erregte durchaus Aufmerksamkeit. Mit meiner auffälligen Canon portraitierte ich die Menschen, die ihre Heimat im Landesinneren verlassen hatten, um hier in Istanbul ein neues, besseres Leben anzufangen. Sie wohnten in gefährlichen Konstruktionen aus Blech, Stein und Plastik. Im Falle eines Erdbebens hätten sie keine Chance gehabt. Eine Familie nahm mich besonders herzlich auf. Der achtjährige Sohn Mehmet wurde schnell mein Freund und ich hatte eine wunderbare, mich noch bis heute prägende Unterhaltung mit ihm. Er spielte mit einem alten zerfledderten Fußball, der kaum noch Luft hatte. „Mehmet“, fragte ich ihn „was sind Deine Träume?“. Er hockte sich auf den Fußball, an seinen Füßen zu große Plastikschlappen mit der Aufschrift free. Er legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: „Ich werde ein Fußballprofi“. Bis heute vergesse ich nicht diese Entschlossenheit und Unbefangenheit in seinen Augen, die all seine Mittellosigkeit plötzlich in den Schatten stellte. „Man kann im Leben alles schaffen, wenn man will“. Da saß ich nun in meinen Lederchucks und Nudies-Jeans und fühlte mich trotz Reichtum leer.

Am Abend werde ich zu einem Essen mit den super Richies in edlem Stadtviertel Nisantasi eingeladen. Ich schlage günstige und landestypische Kost vor und werde missbilligend angeguckt. Nein, wir gehen in eine der schicken und modernen Ketten. Alles, was aus Europa kommt, exotisch und teuer ist, ist beliebt. Die Kreditkarten glühen. Ich denke an Mehmet.

Auf der Überfahrt mit der Fähre zwischen den Kontinenten Asien und Europa scheint die über 20-Millionen-Metropole etwas zur Ruhe zu kommen. Nirgendwo sonst kann man so schnell zwischen Asien und Europa pendeln. Ich stelle mir das immer geographisch vor: Jetzt fahre ich nach Europa. Jetzt bin ich wieder in Asien. Und das alles in 20 Minuten. Knaller. Immer wieder beeindruckend finde ich.

Jede Menge an Kultur hat Istanbul zu bieten. Im Viertel Karaköy treffen sich Designer, Künstler, Hipster. In der Nevizade hat man ganz klassisch einen Abend mit Raki und Meze genießen. Auf der asiatischen Seite Kadiköy findet man so manche Schätze in den Vintageshops. 

Bei meinem Besuch letztes Jahr konnte ich mir selber ein Bild von der neuen Flüchtlingssituation machen. Während eines Spaziergangs in Besiktas rührte mich ein Anblick ganz besonders: Ein Vater mit drei Kindern sitzend an einer Mauer nahe der Hauptstraße. Eins der Mädchen schlief in seinen Armen. Unsere Blicke trafen sich, ich wollte ein Gespräch anfangen, aber ich habe kein Wort rausbekommen. Seine Augen hatten Bänder gesprochen. Fünf Lira hatte ich noch, die ich ihm geben konnte. Ein Fischer am Ufer beobachtete mich und sagte auf Türkisch: „Du kannst nicht allen helfen. Es sind zu viele. Diese Stadt ist nicht leicht. Wenn du nach Istanbul kommst, musst du entweder Istanbul f….. oder Istanbul f…. dich.“

Istanbul lässt mich auf dem Faden, der zwischen den beiden Kontinenten gespannten ist balancieren. Selten bin ich auf Reisen so hin- und hergerissen zwischen unermesslichem Glücksgefühl und lähmender Schwermut. Diese Stadt lockt mich mit ihren noch unentdeckten Schätzen, macht mir schöne Augen bei Nacht und ködert mich mit einer atemberaubenden Aussicht vom Büyük Çamlica. Nur leider wird sie in diesen Tagen kaputt gemacht von Extremisten und von einer fragwürdigen Regierung. „Der Kopf hinter dem Anschlag soll nach türkischen Medienberichten ein Tschetschene sein, der Chef einer IS-Zelle in Istanbul sei.“ schreibt die FAZ. Wir wissen nicht mehr, was wir glauben sollen oder was die Wahrheit ist. Die Realität sieht so aus: Eine akute Lebensgefahr ist plötzlich so nah wie noch nie.

Istanbul, auch wenn ich hier in Deutschland die Hässlichkeit nicht sehen kann, die man dir antut, fühle ich sie.