Von Spaltungen, Hoffnungen und einem gebrochenen Nacken

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 18. November 2011

Was heute in ist, kann morgen out sein. Oder sogar richtig verhasst. Wie etwa Kernenergie. In den 50ern war es die Hoffnung schlechthin; heute ketten sich Tausende an Bahngleise um von dieser Energieform wegzukommen. Die Befürworter dagegen bekunden feierlich, dass gemessen an der erzeugten Menge Strom keine Form der Energiegewinnung so sauber ist wie die Atomkraft. Kernenergie spaltet nicht nur Kerne – auch die Bevölkerung ist sich uneins. Aber wer weiß schon wirklich Bescheid? Wie viele Kernkraftwerke gibt es überhaupt in Deutschland? Wie viele davon sind noch in Betrieb? Und wo stehen sie eigentlich? Wie viel Prozent des deutschen Stroms werden aus Kernkraft gewonnen? Was sind die Gefahren dabei? Und was sind die Alternativen?

Auf keine dieser Fragen liefert Volker Sattels Dokumentation „Unter Kontrolle“ eine Antwort. Stattdessen reiht sich Stillleben an Stillleben. Leere Büros, Schaltpulte, Drähte, Knöpfe und dann wieder leere Büros. Menschen sieht man in „Unter Kontrolle“ nur selten. Mit Volker Sattel gesprochen haben noch viel weniger. Das ist auch kein großes Wunder – selbst vor Fukushima wurde um Atomkraft nicht grade viel Wirbel gemacht. Wie bei jeder Form der Energiegewinnung geht es dabei schließlich immer noch primär um eines: das Geschäft. Immer mal wieder tauchen Studien auf, die Belegen, dass in der Umgebung von Kernkraftwerken viel mehr Leute an Leukämie erkranken als anderswo. Aber Gegenstudien gibt es ja auch. Wer hat recht? Keiner weiß es. In der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague fallen jeden Tag 400.000 Liter radioaktives Abwasser an. Das wird direkt in den Ärmelkanal geleitet. Einfach so, ganz legal. Ist das gesund? Keiner weiß es.

Die Zukunft der Kernkraft liegt unter Tage

Volker Sattel macht in einem Interview, das im Inlay der DVD abgedruckt ist, keinen Hehl daraus, dass seine Dokumentation nicht unbedingt ein authentisches Bild liefert; dass sich die Mitarbeiter extra rausgeputzt haben, weil sie wussten, dass eine Kamera kommen würde und sie diese unliebsame Form der Energiegewinnung möglichst positiv darstellen mussten. Und auch dass die Leute, die Sattel interviewte, die Fragen vorher sehen wollten und manche davon einfach aussortierten. Warum? Keiner weiß es.

Volker Sattel hält sich mit seinem Film „Unter Kontrolle“ fern von Fragen oder Antworten. Er bezieht keine Stellung, macht keine Meinung. Aber genau das sollte eine Reportage zu einem so heiklen Thema wie Atomkraft tun. Bei Sattel sprechen nur Bilder. Und die sehen nach Unheil aus. Selbst die zu einem Vergnügungspark umfunktionierte Anlage Kalkar, in deren Kühlturm heute ein Kettenkarussell kreist, hat etwas Bedrohliches – es sind Bilder wie aus einer Utopie: wie lebt der Mensch nach der Kernschmelze?

Schaut man unter kernenergie-portal.de, wo in Deutschland man Kerntechnik studieren kann, bekommt man eine erstaunlich lange Liste angezeigt. Folgt man dem Link zu den Berufsaussichten und Karrierechancen weiter, ist nur noch eine Überschrift zu lesen, die lautet: Warum ist das Studium interessant und was sind meine Karriereaussichten? Darunter steht aber nichts mehr. Selbst das Kernenergieportal hat keine Argumente mehr. Kein Wunder, soll doch bis 2022 das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz gehen. Allein 2011 wurden 8 AKW's abgeschaltet. Bleiben noch 17 kommerzielle Reaktoren übrig. Und drei weitere Reaktoren, die zur Forschung genutzt werden. Denn geforscht wird noch immer fleißig. Seit inzwischen 50 Jahren versucht man, statt die Kerne zu spalten, sie zu fusionieren. Dabei würde viel weniger radioaktiver Abfall entstehen. Und das mit dem Abfall ist ja so eine Sache. Als das erste deutsche AKW 1966 in Betrieb ging, hatte niemand eine Ahnung, wohin man mit dem strahlenden Abfall sollte. Eine Antwort darauf gibt es auch heute nicht. Bisher verbuddeln wir die gelben Fässer nur und hoffen, dass sie die nächsten paar Tausend Jahre keiner ausgräbt.

„Tschernobyl hat uns den Nacken gebrochen“

Volker Sattel wollte mit seinem Film kein Statement abliefern, sondern viel mehr eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Situation machen. Und jene Momentaufnahme spricht in der Tat Bände. Bände davon, wie die Atomenergie immer mehr an Prestige verlor. Und allen Ernstes lässt Sattel jemanden zu Wort kommen, der sich darüber beklagt, dass die Atomindustrie so glorreich angefangen hat und wie viele Wissenschaftler gehofft hatten, ruhmreich mit ihr zu werden. Aber dann kam ja alles anders und jetzt ist die Enttäuschung groß. „Tschernobyl hat uns den Nacken gebrochen“, heißt es im Film. Angesichts zehntausender Toter den Niedergang der doch so „strahlenden“ Kernindustrie zu bedauern hat etwas Sadistisches an sich. Wer das jedoch sagt, erfährt man gar nicht – es gibt sonderbarerweise keine Einblendungen, wer der Sprechende ist. Nur der Abspann verrät es. Dafür lernt man, dass AKW's Vernebelungsanlagen haben, die bei einem drohenden Anschlag mit einem Flugzeug ein ganzes Tal in Nebel hüllen können. Zumindest das gibt einem doch ein Gefühl von Sicherheit. Oder?

„Besonders wertvoll“, wie die Deutsche Film- und Medienbewertung titelte, ist „Unter Kontrolle“ vielleicht für die Archive, nicht jedoch für den Zuschauer, der etwas über Atomenergie lernen wollte. Nur die düsteren Bilder sind es, die ein wenig Eindruck hinterlassen. Was bleibt, ist noch immer die Frage, ob Atomkraftwerke sicher sind. Sind sie es? Keiner weiß es.

Die DVD bietet im Inlay ein Interview des Regisseurs und diverse Trailer im Bonusmaterial. Außerdem englische Untertitel und einige zusätzliche Szenen. Im ROM-Teil gibt es Arbeitsmaterial für Schulklassen.

Atom-Doku missversteht sich selbst als Kunstprojekt