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Pokémon GO (dahin, wo du herkommst)

von Portrait von Carina Kaiser Carina Kaiser
Veröffentlicht am 26. Juli 2016

Ich habe drei neue Jeans und meine Schwester hat jetzt ein Glumanda. Spricht das jetzt für oder gegen mich? Weder noch. Aber ich Google erst mal, was ein Pokémon ist. 

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Sie sind überall. Also virtuell »gesehen«. Ne, nicht nur diese Poké-Dinger. Sondern auch die, die nach ihnen suchen. Da ist also eine App, die am 13. Juli 2016 Deutschland revolutionieren sollte. Aber bevor man mich damit bespringt, muss man mir erst mal eine grundlegende Frage beantworten: Was ist überhaupt ein Pokémon? In diesem Fall rufe ich enzyklopädisches Allgemeinwissen auf und zitiere: »Pokémon, kurz für das englische Pocket Monster – also Taschenmonster - sind Fantasiewesen in der gleichnamigen Serie von Videospielen. Die Pokémon können vom Spieler gefangen, gesammelt und trainiert werden.«. Augenblicklich erinnere ich mich an die 2. Klasse und den Pausenhof zurück. Zu meiner Zeit, hielt man einen Stapel Pokémon Karten – sorgfältig mit Gummiband gebunden - in der Hand und tauschte sie aufgeregt untereinander aus. Heute nimmt man das Smartphone. Aber auch ohne App, bin ich mittendrin. 

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Spielfeld verspäteter Kindheitsvisionen 

Hochgradiger Betroffenheitsmasochismus. So würde ich es nennen. Ich muss nicht selber zur Zigarette greifen um draußen am Kölner Dom im Zigarettenrauch zu stehen. Ich muss mir nicht Pokémon GO runterladen, um danach auf dem Spielfeld virtueller, verspäteter Kindheitsvisionen zu stehen. Der Pokémon-Live-Ticker läuft nicht nur im Internet sondern auch vor meiner Haustür auf und ab. Für Außenstehende wie mich, unerklärlich. Aber keinen Grund aus der Unwissenheit ad hoc ein negatives Urteil abzuleiten. Deswegen beobachte ich die neue Spezies unauffällig und ziehe dann ein Resümee. Ich laufe also durch die Kölner Stadt, am Aachener Weiher vorbei, durch die Südstadt bis hin zum Rheinufer. Überall begegne ich ihnen. Menschen die auf ihr Handy starren, wieder und wieder die selbe Strecke ablaufen und sich vor Sehenswürdigkeiten tummeln. Wenn sie nicht gerade tracken, tragen sie entweder ein »yeah, ich hab's gefunden« Lächeln  oder die angepisste »fuck, es ist geflüchtet« Miene. Manche müssen über sich selber lachen, weil sie neben fremden Suchern stehen und auf ihrem Smartphone rumwischen. Andere kommen darüber ins Gespräch. Ich glaube, es ist ihnen nicht einmal unangenehm. Und mich bemerken sie gar nicht.

Die wilde Monsterjagd oder auch »

The Walking Dead«

Mein Fazit zu diesem Anblick ist sehr zwiespältig. Ich freue mich für alle Beteiligten, denn sie scheinen auf eine skurrile Art und Weise Spaß zu haben. Und das Glotzen aufs Smartphone ist im 21. Jahrhundert auch kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Was ich wiederum nicht verstehe: Menschen stehen vor Sehenswürdigkeiten, würdigen diesen aber keines Blickes, weil sie so vertieft in ihr Spiel sind. Da wird man als Kult(ur)pessimist dargestellt, weil man die neue Technik zuerst kritisch hinterfragt, bevor man 70% seiner Tageszeit damit verbringt. Stimmt meine Beobachtung? Insider verraten mir, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Anscheinend schaut man sich Denkmäler sogar noch genauer an. Poke-Stops hin oder her. Es ist eine wilde Monsterjagt um mich herum - ich komme mir vor wie in der Pilotfolge von »The Walking Dead«. Die Zombie-Apokalypse geht sogar so weit, dass die Endgeräte selbst im Urlaub rausgeholt und die App angeschmissen wird. Die App ist momentan auf jedem fünften Gerät installiert. Uff. 

Carolina RegerCarolina RegerDie KÖ-Brücke in Düsseldorf - und auch der Treffpunkt für 4 Pokéstops.

Auch Unternehmen nutzen die Revolution klar zu ihrem Vorteil. Die Berliner Verkehrsbetriebe werben mit »Pikachu« (klar, ist ja auch gelb). 1Live bringt täglich Pokémon-News und hängt an diverse Lieder ein »Piiiiikkaaaaattssschhhhuuuu«. Irgendwie scheint sich jeder mit den Taschenmonstern ein goldenes Näschen zu verdienen – von den Erfindern mal ganz abgesehen. Das ist eigentlich genial. Jetzt werden Pokémon-Cocktails serviert, Pokéballs in Form von Akkus verkauft und Unternehmen freuen sich darüber, dass ihr Geschäft zum Poke-Stop auserkoren wurde (oder man bezahlt dafür, wie McDonalds). 

Wie Pokémon GO Beziehungen rettet

Die Menschheit hat sich entschieden mit Pokémon GO mehr Zeit zu verbringen, als mit Facebook, Snapchat oder Instagram. Schade, dass Selbstdarstellungsplattformen nur von einer anderen Sucht-App abgelöst werden. Immerhin sorgt diese für Bewegung und Gelächter. Pokémon GO verschmelzt nicht nur die virtuelle und die reale Welt, sondern auch seine Nutzer. Darüber hinaus rettet es auch Beziehungen. Erst gestern berichtete mir meine Freundin von der »neuen App, die total Freundinnen-gerecht« ist. You name it. »Ich liebe das Spiel, denn mein Freund geht jetzt mit mir spazieren.«. Krass. Ich freue mich für sie. Und prompt fangen wir ein Myrapla auf ihrer Terrasse. 

Carolina RegerCarolina RegerHier erfasse ich mein erstes und letztes virtuelles Pokémon. Seinen Namen habe ich vergessen

Die Tatsache, dass eine neue Anwendung, die von - sagen wir mal gesellschaftlicher Irrelevanz ist – aber im gleichen Atemzug auch eine Begeisterungswelle samt Rattenschwanz lostreten kann. Was sagt dieser Selbstauslöser über uns aus? Die erweiterte Realität wird wie ein Pokéball in die Menge geworfen und fast die gesamte Menschheit eingefangen. Millionen von ihnen zaubern sich durch imaginäre Kreaturen ein bisschen Magie in ihr Leben und verbringen die »Time of their Lives«. Wenn wir mal ehrlich sind, geht es doch längst nicht mehr um die Taschenmonster. Es wurde Zeit abzuschalten, unserer brennenden Welt zu entkommen, sich in ein Kokon der virtuellen Welt zu begeben und die reale auszublenden. Dafür habe sogar ich Verständnis. Trotzdem werde ich heimlich jubeln, wenn die Monster irgendwann wieder da hin entwischen, wofür sie erschaffen wurden: die Tasche.