Kevin Kuhn

Autor und Dozent

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 26. September 2012

Erzähl doch bitte etwas über Dich selbst.

1981 in Göttingen geboren, bin ich doch in Ulm aufgewachsen; während der Schulzeit ging es für eine längere Zeit nach Alaska, dann nach der Schule nach Mexico City. Studiert habe ich in Tübingen Philosophie, Religionswissenschaften und Kunstgeschichte, in Hildesheim dann Literarisches Schreiben, wo ich auch seit 2010 unterrichte. Leben tue ich mittlerweile in Berlin.

In Deinem Debütroman „Hikikomori“ geht es um einen jungen Mann, der sich in sein Zimmer einschließt und beschließt, vollkommen isoliert zu leben, zumindest so lange, bis er sich über ein paar Sachen klar geworden ist. Keine persönlichen Kontakte, kein Treffen mit Freunden - nur das Internet. Das wäre Stoff für eine Komödie und auch für eine Tragödie. Welchen Unterton hat denn „Hikikomori“?

Lydia Herms von Radioeins meinte, es sei ein sehr hoffnungsvolles Buch trotz der drückenden Situation. Genau das war mein Anliegen: das Abschotten von der Gesellschaft und die Rückbesinnung auf sich selbst als etwas Hoffnungsvolles, vielleicht sogar Notwendiges darzustellen. In der Isolation entsteht eine neue Welt, die Till, der Held des Buches, kreiert. Welt 0. Diese blüht, wird von anderen in fernen, verdunkelten Zimmern belebt, während draußen vor Tills Zimmertür das alltägliche Leben weitergeht. Das ist tragisch und komisch zugleich. Tragisch gerade das hilflose Verhalten der Eltern, die nicht recht wissen, wie mit einem Sohn, der sich eingesperrt hat, umzugehen ist. Und komisch, weil es eben aus dem Leben ist, und das Leben nunmal unheimlich viele bizarre, komische Elemente in sich birgt.

Die meisten Autoren schreiben über Dinge, die sie kennen. Hast Du ein Selbstexperiment gestartet und eine Weile abgeschottet gelebt, oder ist der Plot ein reines Gedankenkonstrukt? Wie bist Du auf die Idee dazu gekommen?

Das Entscheidende ist das fiktionale Hinausdenken, über die Grenzen des Realen hinweg. Das kann Literatur. Sie war schon längst auf dem Mars, bevor die Zeit soweit war.

Ich kenne den Wunsch sehr gut, sich der Beeinflussung der Außenwelt entziehen zu wollen. Aber nicht nur alleine von mir, sondern die halbe Literatur ist voll damit – man denke an Robinson Crusoe, dessen Inselwelt bald zum einzig Wahren wird, oder Kafkas Gregor Samsa, der irgendwann lieber Käfer bleibt, anstatt sich als Geschäftsreisender „draußen“ vereinnahmen zu lassen. Und bei vielen anderen, mit denen ich spreche, sehe ich diese Tendenz, diese Sehnsucht. Und diese habe ich aufgenommen und weitergedacht. Klar, ich saß auch mal für eine Weile im Dunklen, aber das Entscheidende ist das fiktionale Hinausdenken, über die Grenzen des Realen hinweg. Das kann Literatur. Sie war schon längst auf dem Mars, bevor die Zeit soweit war.  

„Hikikomori“ ist, wie die meisten anderen Coming Of Age-Romane auch, eine bittere Gesellschaftskritik. Was würdest Du an unserer Gesellschaft ändern? Woran kranken wir - und besonders die junge Generation - am meisten?

Vorneweg: ich bin ein Fan der heutigen Zeit und ihrer Generation. Wir haben gerade einen medienhistorischen Quantensprung hinter uns gebracht und tappen da noch alle im Digitalen-Dunklen. Das macht Spaß, ist aber überfordernd zugleich. Und so wie sich die Entdecker der Neuen Welt, oder die Generationen der Industrialisierung neu definieren mussten, so liegt es auch an der Jetztzeit, mit den Veränderungen, die man wirklich bis ins kleinste Detail spürt, passend umzugehen. Das Besondere aber im Vergleich zu den letzten Umwälzungen ist, dass wir alle daran beteiligt sind. Jeder, der den Fernseher, das Telefon, die Landkarte, den Busfahrplan, das Lesen usw. mit einem Smartphone tauscht, definiert das gewöhnliche Verhalten bereits neu – also auch sich selbst. Die „alte“ Generation sieht das natürlich argwöhnisch, weil sie viele ihrer Errungenschaften an der Schwelle des Vergessen und der Unbrauchbarkeit wähnt. – Ich schreibe Bücher und kann auf Möglichkeiten des Einzelnen, vielleicht auch Sackgassen aufmerksam machen. Verändern müssen aber andere was.

Ich bin ein Fan der heutigen Zeit und ihrer Generation. Wir haben gerade einen medienhistorischen Quantensprung hinter uns gebracht und tappen da noch alle im Digitalen-Dunklen. Das macht Spaß, ist aber überfordernd zugleich.

Du hast Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaften in Tübingen studiert, bevor Du Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim studiert hast. Darf man daraus schließen, dass Dir das Schreiben nicht immer viel bedeutet hat und Du eigentlich in eine andere Richtung gehen wolltest?

Schreiben war für mich seit dem letzten Schuljahr stets das A und O. Ich merkte, das ist mein Weg, mich mitzuteilen, nicht als großer Redner, nicht als jemand, der ein Objekt mit seinen Händen entwirft, sondern mit Sprache und ihrem unendlichen Hallraum: Raum der Phantasie. Studiert habe ich nebenher. Anfänglich schrieb ich philosophische Abhandlungen, dann eine ganze Weile Lyrik. Ich versuchte es mit Theaterstücken und Drehbüchern, Miniaturen und Kurzgeschichten. Erst recht spät, nach einem Zweitstudium in Hildesheim, merkte ich, dass meine Geschichten, gerade die des Hikikomori, Platz brauchen. Es hat also knapp 10 Jahre gedauert, bis ich im Schreiben mein Medium gefunden habe: den Roman.

Während sich Dein Protagonist in seinem Zimmer verschanzt, hat es Dich in die Ferne gezogen – Du hast in Alaska und Mexiko City gelebt. Auch da sind wieder klare Kontraste zu sehen; allein klimatisch. Hast Du, um es esoterisch zu formulieren, Deine innere Mitte noch nicht gefunden? Suchst Du noch nach Dir selbst?

Eine innere Mitte? Nein, die habe ich noch nicht gefunden; aber einfach auch deswegen, weil ich nicht daran glaube, oder besser gesagt: weil mir die Suche nach einer stabilen Person nicht naheliegt. Ich glaube nicht an ein festes Ich, das irgendwie in mir schlummert. Ich glaube, dass wir uns in x-verschiedene Personen in den verschiedensten Situationen und Zeitabschnitten aufsplittern. Und das ist gut; denn: morgen kann ich auch ein ganz anderer sein. Also wenn ich suche – auch im literarischen Sinne – dann ist das eine Suche nach dem anderen, dem fremden Ich.

Ich glaube, dass wir uns in x-verschiedene Personen in den verschiedensten Situationen und Zeitabschnitten aufsplittern. Und das ist gut; denn: morgen kann ich auch ein ganz anderer sein.

„Hikikomori“ ist am 10. September erschienen. Warst Du aufgeregt? Und wie war das erste Feedback?

Ein Buch schreiben ist in etwa wie ein Kind auf die Welt bringen. Das ist dann da und wächst unabhängig von dem, was man mit ihm tut. Man muss es loslassen und schauen, welchen Weg es geht. Und klar, das macht einen schon nervös. Es könnte ja die nächste Klippe hinunterstürzen, oder ihm könnten Flügel wachsen und es in ungreifbare Ferne rücken. Das erste Feedback war die SMS eines Studenten. Wenige Stunden nach Erscheinen. Das sagt schon alles!

Hast Du die Kritiken zu Deinem Roman gelesen, oder sind Dir die Pressestimmen egal?

Sie sind mir alles andere als egal: ich lese jede Kritik, wohl jeden Kommentar noch im kleinsten Blog. Das ist das Schöne hier. Der Leser kann zu Wort kommen, er kann selber zum Autor werden, angestachelt vom Roman die Geschichte kommentierend weiterführen.

Wer sind Deine literarischen Vorbilder?

Oje, die ändern sich beinahe täglich. Im Grunde fasziniert mich alles, was ich lese. Es gibt kaum ein Buch, dem ich nichts abgewinnen kann, von dem es etwas zu lernen gibt, auch wenn es nur das ist, genau das Gegenteil zu tun. Für den Hikikomori müsste ich Murakami und Wray nennen, für das jetzige Schreiben ist es Ben Brooks und die Serie „Breaking Bad“. Ja, Literatur ist das eine, aber gerade aus dem Film, aus der Kunst, aus der Webkultur, aus der Musik ziehe ich unheimlich viel.

Was ist Dein nächstes Projekt? Werden wir Till in einer Fortsetzung wieder begegnen?

Till ist erst einmal auf und davon. Vielleicht läuft er mir mal irgendwann wieder über den Weg, ich weiß es nicht. – Der nächste Roman verlässt das Zimmer, definitiv. Er wird in vielen Ländern dieser Welt spielen und voller Euphorie sein.  

Ja, Literatur ist das eine, aber gerade aus dem Film, aus der Kunst, aus der Webkultur, aus der Musik ziehe ich unheimlich viel.

Die Inselfrage: Welche fünf Bücher würdest Du mitnehmen?

Ich habe länger darüber nachgedacht, einen vollgestopften eReader mitzunehmen; aber das ist strommäßig doch ein zu kurzer Gedanke. Also dann doch das klassische Buch, in haltbares Ziegenleder gebunden: Das „SAS Survival Handbook“ von Wiseman, das ist in so einer Situation wohl recht sinnvoll. Dawid Foster Walles „Unendlicher Spaß“, damit wäre ich lange beschäftigt, könnte ihn x-mal lesen und immer noch Neues entdecken. Die letzte Tageszeitung. Dann könnte ich jeden Artikel, jedes Thema die nächsten Tage weiterspinnen und mir so einen Separatverlauf der Weltgeschichte ersinnen, wenn ich nicht gerade schwimmen oder Kokosnussessen wäre. Heideggers „Sein und Zeit“. Naja, um das geht es wohl auf einer Insel: Sein und Zeit. Und bis ich das so richtige kapiere, und was Heidegger damit meint, bin ich schon 3-mal gerettet.

Was liest Du grade privat?

Gerade aufgeschlagen liegen:  „Homer and Langley“ von E.L. Doctorow und „Pola“ von Daniela Dröscher.

Gibt es noch etwas, das Du unbedingt mitteilen möchtest?

Fin.