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Kurzgeschichte (3) - Der Mann den sie nicht kannte

von Portrait von Natalie Huberto Natalie Huberto
Veröffentlicht am 14. November 2016

Es regnete in Strömen. Der Winter war offizielle in New York angekommen. Der Wind der sich zwischen den hohen Gebäuden durchschlängelte wirbelte den Fußgängern ganz schön um die Ohren und ließ den sowieso schon hektischen Verkehr noch undurchdringlicher wirken. Die junge Frau, die sich in ihren wackeligen Schuhen kaum von der Stelle bewegen konnte seufzte genervt, so laut das sich andere Passanten bereits nach ihr umsahen. Sie konnte ja schlecht Barfuß durch die Straßen von New York laufen, also blieb ihr nichts anderes übrig als das Dilemma zu ertragen. Eigentlich wollte sie sowieso mit dem Taxi zur Arbeit fahren, die Schuhe die sie trug waren schließlich nicht für solch einen Marathon gedacht, doch als sie die Nummer des Taxiunternehmens gewählt hatte sprach der Mann am Telefon von einem absoluten Verkehrschaos und mindestens 2 Stunden Wartezeit. Na toll. Also hatte sie sich ihre Tasche geschnappt und war zu Fuß los. Ein großer Fehler.

Als sie es gerade so geschafft hat sich bis zur Hälfte des Weges durchzukämpfen vielen plötzlich die ersten Flocken. Dick und weiß rieselte der Schnee vor ihren Augen bis auf den grauen Asphalt. Und innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich ein regelrechter Schneesturm. Ihre dunklen Haare waren von einer Krone aus Schnee bedeckt, der langsam schmolz und anfing zu tropfen. Wenig später ertönte die erste Sirene. Wieso löste Schnee eigentlich in allen immer solch eine Panik aus? Sie mochte Schnee eigentlich, doch sie war sich auch bewusst, dass sie es so niemals zur Arbeit schaffen würde. Sie war sowieso schon fast eine drei viertel Stunde zu spät. Die junge Frau erblickte ein paar Meter vor sich einen Coffee Shop, der nicht bis zur Decke voll mit Menschen zu sein schien. Also eilte sie so schnell sie konnte in diese Richtung.

Sie saß am Fenster und betrachtete den immer dichter werdenden Schnee. Die Straße war bereits weiß, obwohl Autos andauernd vor und zurück fuhren. Irgendwie beängstigend. Ihrem Chef hatte sie eine kurze Nachricht zukommen lassen, der hat ihr den Tag frei gegeben. Sie wärmte sich ihre Hände an einer großen Tasse heißer Schokolade die ihren durchgefrorenen Körper in Windeseile wieder aufgetaut hatte.

Die Zeit verging wie im Flug, sodass sie gar nicht merkte wie es draußen langsam schon wieder Abend wurde. Sie hatte schon lange nicht mehr die Zeit gehabt einfach so dazu sitzen und nichts zu tun, dafür war ihr Job einfach viel zu stressig. Und jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher als genau das öfters tun zu können. Sie hatte keine Ahnung wie sie nach Hause kam, doch da machte sie sich jetzt noch keine Gedanken drüber. Sie knabberte sogar genüsslich an einem Blaubeermuffin herum, was sie sonst nie tat. Im Alltag versuchte sie Zucker und Fett weitestgehend zu vermeiden. Toll fand sie das nicht immer, aber in dem Unternehmen in dem sie arbeitete wurde plötzliche Gewichtszunahme nur ungern gesehen, also hieß es Diät halten. Keinen Hintern, unabhängig und sehr erfolgreich. Vielleicht war sie deshalb Single. Männer bekamen bei den Attributen „Unabhängig“ und „Sehr Erfolgreich“ meistens Angst. Zumindest war das in der Vergangenheit so gewesen. Ihr Ex-Freunde war nie damit klar gekommen, dass sie erfolgreicher war als er. Und dann hatte er sie einfach so verlassen.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Als sie aufblickte traf ihr Blick auf einen gut aussehenden Mann in einem dunkel blauen Anzug. Lecker. Er hatte braune Haare und dunkle Augen.  Sein Gesicht zierte einen dunklen Bart. „Ähm, ja klar. Setzen sie sich ruhig.“  Der junge Mann ließ sich neben ihr nieder und lächelte sanft. Er schien schüchtern. „Verraten sie mir wie sie heißen?“ Fragte er plötzlich und öffnete den Knopf seines Jacketts. Ihr Blick blieb kurz auf seinem Oberkörper hängen und schweifte dann zurück zu seinen Augen. „Ich heiße Annabelle und sie?“ Antwortete sie freundlich und lehnte sich in dem übergroßen Sessel zurück. „Ein schöner Name. Ich heiße James, aber alle nennen mich Jamie.“ Grinste er und lehnte sich ebenfalls entspannt zurück. Die Blicke der beiden trafen sich erneut. Irgendwie komisch, aber trotzdem nicht unangenehm. Die ganze Situation war irgendwie so Klischeehaft, dass sie kurz mit dem Kopf schüttelte. „Willst du noch etwas trinken?“ Er deutete auf ihr leere Tasse und sie nickte kurz. „Gerne noch eine heiße Schokolade.“

Wenig später kam er mit zwei Tassen Kakao und einem Croissant wieder. Sie nahm ihm die Tasse dankend ab und trank einen Schluck. Die beiden unterhielten sich einige Zeit, während sich das Café nach und nach immer mehr leerte. Draußen war es bereits dunkel. Die Flocken fielen wie wild durcheinander und hatten die Bürgersteige und Straßen von New York vollkommen bedeckt. Immer wieder ertönten Sirenen, die daraufhin deuteten das jemand der plötzlichen Glätte zum Opfer gefallen war. Jamie arbeitete in der Personalabteilung einer großen Versicherung und hatte so einiges zu sagen. Abgeschreckt von ihrem Beruf als Chef Autorin eines bekannten Magazins war er jedenfalls überhaupt nicht. Das überraschte sie. Anstatt nur die ganze Zeit über sich selbst zu reden, wie es ihr bei vielen Dates in der Vergangenheit passiert war, wollte er alles genauestens wissen. Sie konnte ihm an den Augen ablesen, dass er ihren Job wirklich als faszinierend empfand.

„Ich glaube ich sollte so langsam gehen. Ich habe sowieso keine Ahnung wie ich jetzt noch nach Hause kommen soll.“ Lachte sie kurz laut auf und schlüpfte in die Ärmel ihrer Jacke. Sie platzierte ein wenig Geld vor sich auf dem Tisch und stand auf. Jamie erhob sich ebenfalls und drückte ihr das Geld zurück in die Hand. „Zum einen, die Rechnung übernehme natürlich ich und zum anderen kannst du um diese Uhrzeit und in der Dunkelheit nicht alleine nach Hause laufen. Mein Auto steht hier direkt um die Ecke, lass mich dich fahren. Natürlich vollkommen ohne Verpflichtungen, versprochen.“ Die junge Frau überlegte kurz und wog die verschiedenen Möglichkeiten in ihrem Kopf ab. Eigentlich gab es keine Alternative. Bei der Kälte wäre sie nach der Hälfte des Weges vermutlich erfroren, ein Taxi bekam sie um diese Uhrzeit garantiert nicht und wenn Jamie sich so nett anbot, wieso nicht? „Okay, aber dann lass mich wenigstens die Rechnung begleichen.“ Er verdrehte humorvoll die Augen und nickte dann. „Na gut, wenn du unbedingt möchtest.“

Er hatte die Wahrheit gesagt. Das Auto stand gerade mal zehn Meter von dem kleinen Café entfernt, trotzdem musste sie sich an seinem Arm festkrallen um in ihren hohen Schuhen nicht auszurutschen. Wenn sie ihn gefragt hätte, hätte er sie wahrscheinlich sogar getragen. Doch dafür kannten sie sich ihrer Meinung dann doch noch nicht gut genug. Noch nicht.

Die Straßen New Yorks waren voll mit Autos, Schnee und absolutem Chaos. Sie kamen kaum von der Stelle. Egal wo sie hinschaute schlugen die Ampeln im gefühlten Sekundentakt immer wieder von grün auf Rot um. Wie sollten sie so jemals vorankommen? Dann passierte alles ganz schnell, der Laster gegen über von ihnen kam mitten auf der Kreuzung ins Rutschen. Jamie versuchte noch auszuweichen, ohne Erfolg. Mit einem lauten Knall kollidierte der Laster Frontal mit dem Auto der beiden und schleuderte beide fast durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Airbags der beiden flogen auf und trafen die zierliche Frau im Gesicht. Jamie hatte es gerade noch so geschafft ihren Arm zu greifen und zu verhindern, dass sie durch die kaputte Frontalschreibe flog. Sie schaute ihn ein letztes Mal an, bis auch sie bewusstlos in sich zusammen sackte.

Sie fühlte sich komisch, irgendwie durchgeschüttelt. Ihr Kopf tat weh und ihre Lider waren schwer. Was war nur passiert. Ihre Umgebung erinnerte sie an ein Krankenhaus, sie war verbunden mit Schläuchen und einem piepsenden Gerät das ihren Herzschlag im Auge behielt. Sie konnte sich an nichts erinnert. Die letzten Stunden oder Tage waren wie ausgelöscht. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein gut aussehender Mann trat zu ihr ins Zimmer. Sein Gesicht zierte ein breites Grinsen als er auf sie zukam. Sie kannte ihn nicht. „Endlich bist du wach. Du hast keine Ahnung wie lange deine Eltern und ich darauf gewartet haben.“ Sagte er ein wenig aufgeregt und griff nach ihrer Hand. „Meine Familie? Was ist denn passiert?“ Sie hatte sich noch nie so überfordert gefühlt. Die junge Frau hatte keine Ahnung was los war. Ein völlig fremder Mann stand bei ihr im Zimmer und hielt ihre Hand. „Wir waren in einen Autounfall verwickelt, und du lagst zwei Wochen im Koma. Deine Eltern sind draußen im Flur. Soll ich ihnen bescheid sagen?“ Sie nickte wage und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Auf einmal war alles viel zu viel für sie. Sie hatte 2 Wochen im Koma gelegen, konnte sich an nichts erinnern und ein fremder Mann stand direkt neben ihrem Krankenbett.“ Sie löste ihre Hand aus seiner und richtet sich so gut es ging auf. „Du erinnerst dich nicht an mich, stimmt’s?“ Sagte er ein wenig enttäuscht. Doch was half es. Sie hatte das Gefühl ihn noch nie zuvor im Leben gesehen zu haben. „Es tut mir leid, aber nein ich erinnere mich nicht. Aber es hat nichts mit dir zu tun, ich kann mich an nichts der letzten Tage erinnern. Es ist einfach alles nur ein bisschen viel gerade.“ Er nickte verständnisvoll. „Ist schon in Ordnung. Ich sage deinen Eltern Bescheid, okay?“ Sie lächelte sanft und schaute zu wie er das Krankenzimmer verließ.

Wenig später sprang die Tür erneut aus dem Schloss und ihre Eltern eilten glücklich auf sie zu, einzig der junge Mann war nicht dabei. Sie runzelte ein wenig die Stirn. „Was ist los mein Schatz?“ Fragte ihre Mutter besorgt, als es ihrer Tochter schwer viel ihren Blick von der weißen Tür zu lösen. „Nichts, ich frag mich nur wo dieser junge Mann hingegangen ist der euch Bescheid gesagt hat. Sitzt er noch draußen?“ Fragte sie hoffnungsvoll. Ihre Eltern blickten sich für einen kurzen Augenblick verwirrt an, bis sich ihre Mutter neben sie aufs Bett setzte und ihre Hand nahm. „Was für ein junger Mann? Du bist gerade erst aufgewacht. Ein Arzt hat uns Bescheid gesagt.“ Sie strich ihrer Tochter eine Haarsträhne hinters Ohr. „Aber hier war so ein junger Mann. Er war mit mir in einen Autounfall verwickelt. Vielleicht ist er Arzt.“ Erklärte sie und hielt sich den schmerzenden Kopf. „Da war kein junger Mann, mein Schatz. Der Arzt der uns Bescheid gesagt hat war mindestens fünfzig. Am besten du ruhst dich noch ein wenig aus.“ Annabelle verstand die Welt nicht mehr. Sie konnte sich das doch nicht alles nur eingebildet haben. Es hatte sich so real angefühlt. Sie hatte den jungen Mann zwar nicht wiedererkannt, doch als er ihre Hand genommen hatte, hat es sich richtig angefühlt. Deshalb war sie so überfordert gewesen. Warum existierten die guten immer nur in einer Traumwelt.  

Wenn draußen der erste Schnee fiel, dann begegneten sich Menschen wie die Flocken, die der Himmel regnen ließ. Und entweder fanden sie zusammen und wurden zu einer großen Flocke oder sie schmolzen dahin. Die Vorstellungskraft eines Menschen ist so groß, dass es manchmal schwer ist Realität und Traum voneinander zu unterscheiden.