Der Moment des Todes: „New York Post“ wegen pietätlosem Titelblatt im Kreuzfeuer

von Portrait von Steffen Kutzner Steffen Kutzner
Veröffentlicht am 12. Dezember 2012

Vergangener Montag, 3. Dezember 2012, New York in den frühen Abendstunden. Schauplatz des Geschehens ist die U-Bahn-Station 49. Straße in Manhattan. Ein 30-jähriger Obdachloser streitet mit dem 58-jährigen New Yorker Ki Suk Han. Worum es geht, ist nicht klar. Der Streit wird immer lauter. Dann eskaliert die Situation: Der Obdachlose schubst Han auf die Gleise und verschwindet. Umstehende Passanten beobachten die Szenerie, greifen aber nicht ein. Han schafft es nicht, zurück auf den Bahnsteig zu klettern. Als Sekunden später die nächste U-Bahn einfährt, macht ein Passant ein Foto von der Szenerie. Der Zugführer sieht den hilflosen Han zu spät. Er kann nicht mehr bremsen, der Zug überrollt den Familienvater. Er stirbt.

So weit die Ereignisse von vergangenem Montag.

Inzwischen regt sich die ganze Welt über das Geschehene auf - die Passanten hätten helfen müssen - besonders jener Passant, der das Foto machte, Umar Abbassi, seines Zeichens freier Fotograf bei New Yorks bekanntestem Klatschblatt, der „New York Post“. Das Foto zeigt Han, wie er versucht, auf den Bahnsteig zurückzuklettern und dabei den Zug sieht, der im Hintergrund auf ihn zukommt. Es ist eine Memento-Mori-Momentaufnahme - Han erkennt in diesem Augenblick, dass er sterben wird. Abbassi verkauft das Foto an die „New York Post“. Die bringt es am nächsten Tag auf die Titelseite. Die Bildunterschrift in riesigen Lettern: „Schicksal besiegelt: Auf die Gleise gestoßen, dieser Mann wird gleich sterben“. Die Debatte war abzusehen. Wo enden die beruflichen Aufgaben eines Fotografen und wo beginnen die moralischen Pflichten eines jeden Menschen? Und musste die „New York Post“ das Bild unbedingt bringen - auf der Titelseite? Mit so reißerischer Unterschrift?

Der Moment des Todes: „New York Post“ wegen pietätlosem Titelblatt im Kreuzfeuer

Sprung zurück: Im März 1993 fotografiert Kevin Carter im Sudan ein am Boden kniendes, halbverhungertes Mädchen, das die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Dabei wird sie von einem Geier aus dem Hintergrund beobachtet - er wartet nur darauf, dass sie stirbt. Carter half dem Mädchen nicht. Was aus ihr wurde, ist unklar. Er erhielt den Pulitzerpreis für das Foto. Ihm wurde aber auch vorgeworfen, die Situation für seinen Ruhm als Fotograf ausgenutzt zu haben. Es entbrannte eine hitzige Diskussion darüber, dass Fotografen, besonders jene, die in Kriegs- und Krisengebieten der Welt aktiv sind, das Elend zwar einfangen, aber nicht selbst einschreiten. Sie helfen nicht, sie seien nur Voyeure.

Aber verdient nicht jeder, der schlimme Dinge fotografiert, sein Geld mit dem Leid anderer?

Ist es unmenschlich, einem verhungernden Kind im Sudan nicht zu helfen? Wenn Sie ihren Fernseher verkaufen würden, könnte man von dem Erlös ein afrikanisches Kind über Monate hinweg ernähren. Sie tun es trotzdem nicht. Ich auch nicht. Das macht uns nicht zu Monstern. Einem Mann nicht zu helfen, der Sekunden später von einer U-Bahn getötet wird, ist etwas anderes. Im Sudan hungert praktisch jedes Kind und man kann nicht allen helfen, aber Ki Suk Han war nur ein einziger Mann; nicht an irgendeinem Ort der Welt, den ohnehin kaum jemand auf einer stummen Landkarte finden würde, sondern in New York, nicht weit weg vom Times Square, umgeben von wahrscheinlich dutzenden Passanten. Seine Frau Semin und seine 20-jährige Tochter Ashley können nicht verstehen, warum ihm niemand geholfen hat. Ganz besonders Abbassi, der das Foto machte. Er hätte ihm helfen können. Abbassi behauptet zwar, er wäre zu weit weg gewesen und hätte den Fahrer der U-Bahn mit seinem Blitzlicht warnen wollen, aber das Foto beweist das Gegenteil - dass Abbassi nicht zu weit weg stand und nicht, wie er behauptete, rannte und wild fotografierte, um den Fahrer auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht hat er ihn sogar geblendet und so den Tod von Han mitverschuldet. Die anderen Passanten aber haben ihm auch nicht geholfen. Ein typischer Fall vom Kitty-Genovese-Syndrom. Je mehr Leute eine solche Szene beobachten und untätig bleiben, desto unwahrscheinlicher ist es, dass überhaupt jemand hilft. Zuschauer-Effekt nennt man das.

Gegen die „New York Post“ brach nun eine heftige Welle der Empörung los. Das Bild zu veröffentlichen sei unmenschlich gewesen, pietätlos, obszön. Die Liste der benutzten Adjektive ist lang. Aber ist nicht genau das das Hauptmerkmal von Boulevardmagazinen? Titelte nicht die „Bild“ am 12. September 2001 reißerisch „Großer Gott, steh uns bei!“ - und veröffentlichte dazu ein Foto, bei dessen Aufnahme hunderte Menschen in einem Feuerball starben? Allerdings hat auch die renommierte „New York Times“ ein solches Bild benutzt. Auch das Foto des fallenden Unbekannten passt zu dieser Thematik. Der Tod im Titelblatt ist also nicht reißerisch, sondern üblich. Ist das Bild von Ki Suk Han grausamer, als diese? Oder setzt erst die schreiende Schlagzeile das Bild in einen unmoralischen Kontext?

Der unmoralischen Effekt des Titelblattes entsteht durch zwei Faktoren: Zum einen hätte Ki Suk Han jeder Umstehende helfen können, anders als bei dem Fallenden Unbekannten und auch anders als bei dem hungernden Mädchen im Sudan - es wäre die Aufgabe eines jeden Menschen gewesen, auch des Fotografen. Das Foto beweist, dass er seiner Pflicht nicht nachgekommen ist. Und diese Sensationsgeilheit wird zusätzlich durch die Überschrift verstärkt. In großen Lettern wird die Hilflosigkeit des Opfers und die fatale Passivität der Umstehenden gefeiert. Somit wird das Bild des Ki Suk Han zu einem Mahnmal für (den Mangel an) Zivilcourage - und auch zu einem Mahnmal für fehlgeleiteten Journalismus.

Der Obdachlose, der den angeblich alkoholisierten Han auf die Gleise geworfen hatte, stellte sich kurz nach dem Vorfall selbst. Er befindet sich in Untersuchungshaft und erwartet einen Prozess wegen Totschlags.