Was uns bewegt: Ein wehmütiger Rückblick in die Türkei meiner Kindheit

von Portrait von Melek Yaprak Melek Yaprak
Veröffentlicht am 14. April 2014

Ein Haus aus Schuhkartons

Neulich stand ich im türkischen Supermarkt Karadag am Eigelstein vor dem Olivensortiment. Mich glotzten ungefähr 58 verschiedene Sorten an. Grüne, schwarze, geschnittene, gefüllte, griechische und türkische Oliven. Ich spähte nach meinen Favoriten. Marke Marmara, schwarz, klasik boy, also normale Größe (die Größe ist sehr wichtig und ist ausschlaggebend für den Geschmack) mit Stein (ich hasse Oliven ohne Stein, Eunuchen sind das). Das TV-Gerät im Hintergrund läuft ununterbrochen, wie so oft auf türkischen Gewerbsflächen und für einen kurzen Moment wurde ich nostalgisch, als ich die Sprache hörte. (Zu Hause gibt es kein türkisches TV, ich hole mir meine überschaubare Ladung an türkischen Vokabularien über das Internet. Die Serie „Muhtesem Yüzyil“ hat sich hier als sehr lehrreich erwiesen.)

Ich lauschte einer Pegasus Werbung und wurde sofort in meine Kindheit katapultiert. Mich erinnerte es daran, wie wir in den Sommerferien regelmäßig in die Türkei geflogen sind. Am Security Gate gerieten wir immer in einen unbändigen Haufen von Türken - welch Unterhaltung und nervliche Herausforderung zugleich. Die türkischen Tanten vor uns hatten allerlei in ihrem Handgepäck: Nescafé und Nutellagläser, palettenweise (der Klassiker: Was bringt man den Verwandten aus dem schönen Deutschland mit? Nescafé und Nutella – als ob Ferrero ein Embargo gegen die Türkei verhängt hätte und man könnte dort kein Nutella kaufen), paketweise Streichhölzer (für den Gasherd, weil es ja dort drüben keine Streichhölzer gibt) und ein Beil. Für das Opferfest. Im Handgepäck.
Eine längere Diskussion zwischen Sicherheitsbeamten und Tantchen folgt. Inzwischen mischen sich 12 andere Personen in das Gespräch ein. 10 davon gehören nicht zum Tantchen. Es bildet sich ein Stau. Babys schreien. Man hätte denken können, das Ganze hat soviel Aufmerksamkeit erregt, dass es bestimmt keine weiteren Nachahmer gibt und die nächsten hätten daraus gelernt. Nope. Falsch. Das nächste Tantchen möchte ihren Apfel im Flugzeug mit einem scharfen Messer halbieren und findet nichts Verwerfliches daran.

Wo sind sie nur hin, diese Tage?, frage ich mich als ich den Karadag verließ. Die Aufregung vor den Sommerferien? Der unbeschwerte Urlaub im Dorf meiner Großeltern, wo man soviel kalte Pepsi trinken durfte, weil es 40 Grad waren und weil es keine Coca Cola gab. Ich denke an die gemeinsamen Abendessen mit reichlich frisch zubereiteten Speisen: Gefüllte Köfte und Weinblätter, Lahmacun frisch aus dem Ofen, Weintrauben und Melonen aus Opas Garten zum Nachtisch, Engelshaarnudeln mit Käse und Pistazien. Mmmmm.... Ich konnte es förmlich riechen.

Ich denke über die augenblickliche Situation in Istanbul und in der ganzen Türkei nach, dem Schuhkartonstaat. Wir wissen nicht, welche Zukunft es für dieses Land geben wird. Ist die unbeschwerte Zeit etwa vorbei? Ich merkte, wie sehr ich mich entfremdet hatte, wie deutsch ich geworden bin und dass das dicke Band zu diesem Land immer dünner geworden war. Spätestens mit der Pubertät, als man ins heiratsfähige Alter kam, bemerkte ich signifikante Unterschiede zwischen den Vorstellungen meiner Verwandten und die meiner. Immer mehr eckte ich an mit den Gewohnheiten, Traditionen und Ereignissen. Nichts ist mehr so wie es war. Überall stapeln sich hässliche Betonhäuser, als ob es im ganzen Land nur einen einzig denkfaulen Architekten gäbe. Noch mehr Shopping-Malls werden gebaut, obwohl Experten vor Erdbeben warnen und von der Doppelmoral der Türken ganz zu schweigen. 

Wo ist es hin, das Land der Sommerferien, der lauen Sommernächte, des modernen Orients? Mindestens einmal im Jahre wurde ich als Kind daran erinnert, wo meine Wurzeln lagen. In 6 Wochen am Stück polierte ich mein Türkisch wieder auf, gewann neue Freunde und Familien wuchsen zusammen. Mittlerweile hole ich mir meine Portion Orientalismus, wenn überhaupt, bei einem Kurztrip nach Istanbul, wobei ich der Meinung bin, Istanbul ist nicht repräsentativ für den Rest der Türkei. Istanbul ist Europa und mitunter ein Aushängeschild für den Tourismus. Man darf sich nicht blenden lassen. Was war also geschehen? Ich war deutsch geworden. Jedenfalls fühle ich mich so. Die Politik in der Türkei habe ich eh nie verstanden und irgendwann bin ich auch nicht mehr ins Dorf gefahren. Ich kann mich noch so sehr über die Taten von Erdogan aufregen und auf Facebook meinen Unmut teilen, aber wird sich dadurch etwas ändern? Ich verstehe nicht, dass der Ministerpräsident mehr und mehr zum gräulichen Diktator mutieren kann, ohne, dass jemand etwas dagegen tut.

Noch im gleichen Moment, als ich dieses schreibe, bin ich heilfroh, in einem demokratischen Land wie Deutschland leben zu dürfen, in dem Meinungsfreiheit erlaubt ist. Ich kenne viel zu viele persönliche Schicksale, die nach dem Gezi Park - Aufstand einfach so von der Bildfläche verschwunden sind und keiner weiß, wo sie sind. Naja, man vermutet es und manche sprechen es auch aus, aber was passiert? Nichts? Oder nicht das Richtige? Das Internet wird kontrolliert, wichtige Informationsquellen werden blockiert, erschreckende Telefonmitschnitte bestärken den Verdacht der Korruptionsaffäre. Ich erwische mich dabei, wie ich resignierend den Kopf schüttele. Und ein schmerzlich leiser Verdacht kommt in mir auf, dass man wahrscheinlich nichts gegen diese Regierung machen kann. Und wenn doch, wer sagt uns, dass es bei einem Wechsel besser wird? Und wenn die Menschen in der Türkei mich rufen würden, um sie zu unterstützen auf den Straßen, an den Unis, gemeinsam im Marsch – würde ich dahin fahren? Würde ich mich Gefahren aussetzen und meinen inner-türkischen Mann stehen? Vermutlich nicht, denn dafür bin ich zu sehr verwurzelt hier in diesem Land. Jeden Tag streife ich mehr und mehr Herkunft und Heimat ab, bis schließlich irgendwann nichts mehr übrig bleibt, außer der Erinnerung an die unbeschwerten Tage in einem schönen Land. Das Land des prächtigen Jahrhunderts, der Gegensätze und der süßen Kindheitserinnerungen, die immer mehr verblassen.

 

Bilder: Reha Alev, mehr unter Google+/Reha Alev