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Kurzgeschichte (15) - Zusammen allein

von Portrait von Natalie Huberto Natalie Huberto
Veröffentlicht am 6. Februar 2017

Sie saß ein wenig zusammengekauert auf der Couch und sah dabei zu, wie ihr Freund bereits seit einer halben Stunde unruhig auf und ab lief. „Versuch es doch wenigstens.“ Warf er ihr immer wieder zu und er hatte dabei nicht die leiseste Ahnung, wie sehr sie genau das wollte doch ihr Kopf ließ es einfach nicht zu. „Ich kann es nicht. Es geht einfach nicht.“ Er verstand sie immer weniger, anfangs war er noch damit klargekommen, dass sie eben anders war als andere. Doch je schlimmer ihre Angst und Panik-Attacken wurden, desto verständnisloser wurde er. Es gab Tage, da verließ sie nicht einmal das Haus, die Schwelle nach draußen schien wie ein undurchdringbare Mauer, die ihr den Weg versperrte. Stattdessen verkroch sie sich in ihrem Zimmer und schob alles so gut es ging von sich.

Manchmal fiel es einfacher manchmal schwerer, ganz verschwinden würde es wahrscheinlich nie. Es war ein Teil von ihr, wie der Sand ein Teil vom Meer und die Wolken ein Teil vom Himmel waren. Mal hier mal da, manchmal unsichtbar. Doch was blieb ihr schon übrig? Sie musste irgendwie damit fertig werden, dass mussten so viele andere auch. Schwer fiel es, wenn ein unnötiger Kommentar sie mal wieder vollkommen aus der Bahn warf. Doch dann blieb sie meistens still. Was brachte es schon, wenn sie sich irgendwie zu verteidigen versuchte? Das verschwendete nur unnötige Energie.

„Ich weiß echt nicht was dein Problem ist. Ich verlange doch nicht, dass du dich im freien Fall von einem Turm stürzt, dann würde ich deine Angst ja sogar verstehen, aber nicht, wenn ich mir mit dir im Kino einen Film anschauen will.“ Sie blieb stumm, wie so oft. Sie wartete darauf, dass er ging und sie alleine ließ. Immer dann hatte sie endlich wieder das Gefühl, atmen zu können. Etwas das ihr sonst oft so schwer fiel. Sie war gerne alleine, trotzdem hasste sie es einsam zu sein. Leider lag zwischen diesen beiden Dingen ein sehr schmaler Grat, der sich ziemlich oft miteinander vermischte. Sie hörte Schritte, wenig später das Knallen einer Tür. Er war weg. Der angestaute Atem verließ ihre Lunge in einem Rutsch und ließ sie für einen kurzen Augenblick die Augen zusammenkneifen.

Und dann trat diese Stille ein, beruhigend und bedrohlich im selben Moment. Sie ließ sich rückwärts auf die Kissen der Couch fallen und schaute zur Decke, zählte die einzelnen Dellen der Raufasertapete, es beruhigte sie. Das meiste was sie jemals geschafft hatte zu zählen, waren 2056 Dellen. Bei dem Gedanken musste sie sanft grinsen. Und genau das war die große Gefahr ihrer Situation. Es fiel ihr nicht schwer glücklich zu sein oder zu lachen. Doch wenn sie es nicht war, fühlte es sich wie fallen an, nicht vom Stand auf die Knie, sondern aus der obersten Etage eines Hochhauses.

Sie war immer anders gewesen. Nie wie die Mädchen aus den Magazinen oder die auf den Litfaßsäulen, die einem vollkommen losgelöst entgegenlachten. Die ihr mit ihren schlanken Körper zuzuzwinkern schienen,  jedes Mal, wenn sie ihnen unter die Augen trat. Die ihre goldblonden Locken förmlich in ihr Gesicht zu schütteln schienen wenn sie ihnen zu nah kam. Sie hatte große braune Augen, die mitten in ihrem Gesicht saßen. Die schulterlangen, braunen Haare wirkten stumpf und waren in dringendem Bedarf eines Friseurbesuchs. Sie war klein und zierlich, fiel kaum auf, wenn sie durch Straßen oder Fußgängerzonen lief.

Als sie so die Dellen an der Decke zählte, kam ihr eine Situation in den Sinn, über die sie schon lange nicht mehr nachgedacht hatte. Früher, als ihre Vater noch da war um sie zu beschützen, empfand sie keine Angst, ausschließlich pures Glück.  Erst als er bei einem Autounfall ums Leben kam, setzten die Angstzustände ein, immer schlimmer und schlimmer wurden sie. Niemand verstand, was mit ihr los war. Alle wollten sie helfen, doch sie wollte keine Hilfe. Nach und nach wendeten sich alle ab, ließen sie zurück. Sie konnte es ihnen nicht wirklich übelnehmen. Wer wollte schon mit jemandem zu tun haben, bei dem man ständig Angst haben musste, dass der Ausflug in den Park in einer erneuten Attacke endete. Sie verkroch sich immer mehr, bis sie irgendwann ihren Freund zwischen den Regalen eines Supermarktes kennenlernte. Dann wurde alles anders, vorerst. Er hatte es geschafft sie aus ihrem unzerstörbar wirkenden Schneckenhaus herauszuholen. Er hatte ihr beigebracht wieder Spaß am Leben zu haben, sich einfach gehen zu lassen. Denn das hatte sie vollkommen verlernt.

Doch irgendwann war sie in solch einem Trott angekommen, dass auch er ihr nicht mehr helfen konnte, zumindest nicht immer. Sie wollte ihm nicht wehtun oder ihn verletzten, trotzdem tat sie genau das so oft. Sie fragte sich häufig, wie lange er sie noch ertragen konnte, wie lange es dauern würde, bis auch er sie zurück ließ. Dann war sie wieder ganz alleine.

4565 Dellen, 4566 Dellen…es klopfte vorsichtig an der Wohnungstür. Für einen Augenblick zögerte  sie, so viele Dellen hatte sie bis jetzt noch nie gezählt, wenn sie jetzt aufstand, könnte sie von vorne anfangen. Es klopfte erneut, genau so vorsichtig und bedacht wie zuvor. Sie riss sich von der weißen Tapete los und rang sich dazu durch nach wenigen Schritten, die Türklinke in den Händen zu halten die sie wenig später rasch nach unten drückte. „Es tut mir leid, dass ich dich immer und immer wieder alleine lasse. Anstatt für dich da zu sein, renne ich einfach jedes Mal davon. Das will ich nicht mehr. Ich will für dich da sein, ich will, dass es dir besser geht und das du glücklich bist.“ Sie war für einen Augenblick sprachlos. So etwas hatte ihr Freund noch nie zuvor zu ihr gesagt. Er war eher immer zurückhaltend gewesen, was seine Gefühle anging. Sie wusste, dass er sie liebte, aber das in Worten häufig kundgetan hatte er kaum. Sie blieb erst einmal stumm. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass es nicht mehr länger als ein paar Wochen dauern würde, bis er sich von ihr trennen würde und jetzt sowas. Sie wusste kaum damit umzugehen. „Lass uns weg fahren. Einfach mal raus hier, ans Meer und den Strand. Wir packen einfach ein paar Sachen und fahren los. Was hältst du davon?“ Vielleicht war die Idee gar nicht so schlecht. Ein Tapetenwechsel würde ihr vielleicht sogar helfen diesen nicht endenden Trott zu verlassen. Dellen in der Tapete zählen konnte sie da genauso und vielleicht gab es viel spannendere Dinge zu entdecken, als ausgerechnet die blöden Dellen einer Tapete. „Okay, lass uns wegfahren.“

Das Reisen hatte ihr nie Angst eingejagt, viel mehr hasste sie es für längere Zeit am selben Ort zu sein, wo alles gleich war. Wo alle Leute sie kannten und nichts sich zu verändern schien. Das seichte Wasser des Meeres würde ihr neue Kraft schenken und sie endlich wieder atmen lassen.