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Kurzgeschichte (5) - Wellen der Vergangenheit

von Portrait von Natalie Huberto Natalie Huberto
Veröffentlicht am 28. November 2016

Die Wellen schlugen gegen die Meter hohe Steinwand,  wie als würden sie versuchen diese zu Durchbrechen. Die junge Frau stand an der Klippe zwischen Wille und Kraftlosigkeit, bereit sich fallen zu lassen in eine Welt ohne Sorgen und Einsamkeit. Einfach zu versinken, in etwas anderem als den Kissen ihres Bettes, die sich schon seit Jahren nicht mehr wie zu Hause anfühlten. Das Wasser würde die Tränen der Verzweiflung einfach so wegschwämmen und sie endlich vergessen lassen. Etwas, dass sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr konnte. Geflüchtet war sie, aus der großen Stadt raus ans Meer. Sie hatte gedacht, dass hier alles anders wäre. Vertrauter. Doch das war es nicht. Im Gegenteil. Sie hatte sich nie zuvor so einsam und allein gelassen gefühlt wie in den letzten zwei Jahre. Nach einer Woche hatte es niemanden mehr interessiert, wohin sie war. Niemand rief an, niemand fragte nach. Nichts außer Stille. Zurückgehen wollte sie nicht. Stattdessen versuchte sie ihr Leben zu akzeptieren, bekam immer ein wenig Geld von ihren Eltern zugeschickt, das gerade so für das nötigste reichte. Die Heizung blieb kalt, das Wasser lauwarm. Doch sie schlug sich irgendwie durch, irgendwie.

Bis es eines Tages an der Tür geklopft hatte und sie von einem Fremdem überwältigt wurde. Er wusste, dass sie nichts hatte außer ihren zierlichen Körper und genau den wollte er. Danach ließ er sie liegen. Sie hatte ihn nie wieder gesehen. Zur Polizei war sie nicht gegangen, die Scham und Angst zu groß. Und seitdem war sie komplett am Boden gewesen. Zerstört. Er hatte ihr das letzte genommen, was sie noch hatte, ihre Ehre. Alles war egal. Manchmal lag sie tagelang nur da. Aß kaum, trank erst, wenn es ihr schwindelig wurde. Und wie zuvor, niemand rief an, niemand fragte nach. Es war fast so, als wäre nie etwas passiert. Als hätte sie sich das ganze nur eingebildet. Doch die Schmerzen und Bilder in ihrem Kopf würden sie für den Rest ihres Lebens daran erinnern. Sie hatte schon mehrfach versucht vor ihren Gedanken davonzulaufen, doch geschafft hatte sie es nie. Es war nur schlimmer geworden, immer schlimmer. Bis alleine das Atmen für sie zur reinen Qual wurde. Manchmal hatte sie die Luft angehalten, so lange bis ihr schwarz vor Augen wurde. Ihre Angst vor dem Sterben wurde immer geringer, so einfach. Sie sah keinen Sinn mehr.

Die Klippen vor ihr waren steil und steinig. Springen war die einzige Möglichkeit um ins Wasser zu gelangen. Für einen kurzen Moment würde sie sich frei fühlen, sorgenlos. Ein Blitz von Erleichterung, fast Freude durchfuhr sie und sie machte einen weiteren Schritt auf den Abhang zu. Die Luft um sie herum war kalt. Der tosende Wind durchdrang die Ritzen ihrer Kleidung, wie ein spitzer Nagel eine marode Wand. Dass sie bis auf die Knochen fror, war ihr egal. Bald würde sie überhaupt nichts mehr spüren. Ihren Eltern hatte sie nicht mal einen Abschiedsbrief geschrieben. Wieso auch? Es interessierte ja schließlich sowieso niemanden, ob sie Tod oder lebendig war. Ihren Eltern war sie immer peinlich gewesen. Der Arzt und die Architektin. Sie hatte nie dazu gepasst, geschweige denn dazu gehört. Spätestens als sie mit fünfzehn auf eigenen Faust ausgezogen war,  war der Haussegen aus allen angeln gesprungen und in tausend Scherben zerbrochen. Danach hatte sie es gerade so geschafft sich über Wasser zu halten. Sie traf auf die falschen Leute, die redeten ihr erst recht ein, dass sie alleine am besten dran war.

Ein weiterer Schritt und der Boden unter ihren Füßen war nicht mehr da. Sie sprang und fühlte sich so frei wie nie zuvor. Alleine dieser Moment war es ihr Wert ihr Leben dafür zu geben. Doch anstatt wenig später in den eiskalten Wellen des dunklen Wassers zu versinken, schlug sie mit dem Kopf auf einem Stein auf und wurde bewusstlos von den Kräften des Wassers in die Tiefe gezogen.  


Fünf Wochen waren seit ihrem Selbstmordversuch vergangen und sie konnte sich immer noch an nichts erinnern. Niemand konnte ihr sagen wie sie hieß, wie alt sie war oder wieso sie sich umbringen wollte. Alle anderen nannten sie liebevoll „Hope“. Sie mochte den Namen. Hoffnung. Sie lebte in einer betreuten Unterkunft, ihr Zimmer teilte sie sich mit einer zehnjährigen die es ebenfalls schon verdammt schwer hatte in ihrem erst kurzen Leben.

Ein Jogger hatte sie angeschwemmt am Strand gefunden. Niemand glaubte, dass sie es schaffen würde. Ihr Körper war so ausgekühlt, dass ihr Herz kaum noch schlug. Dazu kamen die Kopfverletzung und eventuelle Gehirnschäden. Wenn sie zehn Minuten länger im Wasser gewesen wäre, hätte es keine Chance mehr für sie gegeben. Und jetzt? Sich fühlte sich geborgen, ihre Gedanken waren leer. Ihre Vergangenheit kannte sie nicht und sie hoffte insgeheim, dass es so blieb. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie von einem versuchten Selbstmord ausgingen. Also konnte in ihrer Vergangenheit nichts Gutes passiert sein.

„Mami hat dich lieb. Hast du mich auch lieb?“ Das kleine Mädchen nickte kräftig und schlang ihre kurzen Arme so gut es ging um den Hals ihrer Mutter. „Ich werde immer für dich da sein, immer. Du bist das wichtigste in meinem Leben.“ Sie verstand zwar die Hälfte von dem, was ihre Mutter sagte nicht, aber sie wusste wie sehr sie geliebt wurde. Gleich würde ihr Vater von der Arbeit kommen und sie würden gemeinsam den riesigen Weihnachtsbaum schmücken der im Wohnzimmer stand. Ihr Vater arbeitete viel, war nicht oft zu Hause. Manchmal fühlte sie sich einsam, doch das würde vergehen, zumindest dachte sie das.

Sie schreckte aus dem Schlaf hoch und blickte sich in dem von der Nacht verdunkelten Zimmer um. Ihr Atem war schnell und sie versuchte sich so gut es ging zu beruhigen, doch der Traum hatte sie aufgewühlt. Sie hatte das Gesicht der Frau nicht wiedererkannt, aber sie hatte irgendwie das Gefühl, dass es sich um einen Moment aus ihrer Kindheit handelte. Beweise gab dafür natürlich nicht. Die würde sie wahrscheinlich auch nie bekommen, doch sie wollte wissen, was sich zwischen diesem Moment, der so unendlich weit weg schien und jetzt verändert hatte. Ihre Mutter hatte ihr versprochen, dass sie immer für sie da sein werde, dass sie immer zusammen sein würden. Doch wo war sie jetzt wo sie ihre Mutter am meisten brauchte. Ihr stiegen langsam die Tränen in die Augen. Sie fühlte sich plötzlich so unglaublich alleine. Was sollte sie nur tun? Sie konnte schließlich nicht für den Rest ihres Lebens in diesem Wohnheim bleiben. Für den Moment gefiel es ihr, die anderen Mitbewohner waren nett und zuvorkommend doch so wollte sie nicht den Rest ihres Lebens verbringen. Sie war noch so jung, hatte das ganze Leben noch vor sich. Sie konnte nicht fassen, dass sie einfach so bereit gewesen war all das hinter sich zu lassen und zu sterben.



„Vielen Dank für alles, wirklich.“ Sagte die junge Frau glücklich und traurig zu gleich. Sie fiel allen drei Betreuern um den Hals und drückte sie fest. „Bist du sicher, dass du klar kommst? Du weißt wir haben immer einen Platz für dich frei.“ Lächelte eine der älteren Frauen sanft und drückte ihre Hand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß und dafür bin ich euch sehr dankbar. Ich komm euch besuchen, versprochen. Aber jetzt muss ich erst mal meinen eigenen Weg gehen.“ Sie schlang sich ihre Tasche über die Schulter in der sie die wenigen Dinge verstaut hatte, die sie in den letzten Wochen gekauft oder geschenkt bekommen hatte. Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, machte sie sich auf den Weg in Richtung Bahnhof. Von da aus würde sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter machen. Egal was in der Vergangenheit vorgefallen war. Sie musste sie finden. Und sie würde sie finden.