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Kurzgeschichte (12) - Nach all den Jahren

von Portrait von Natalie Huberto Natalie Huberto
Veröffentlicht am 16. Januar 2017

Sie waren Freunde, nicht mehr und nicht weniger. Zumindest versuchte sie sich das seit zwei Monaten immer wieder einzureden. Es war zu ihrem Mantra geworden das sie überall hin verfolgte, selbst in ihre Träume. Er beschäftigte sich derweil anderweitig, mit Frauen und Alkohol. Er hatte keine Ahnung, wie schwer es ihr fiel so zu tun, als wäre ihr das alles vollkommen egal, wie als täte es nicht jedes Mal weh, wenn sie einen fremden Duft in seiner Wohnung roch. Sie lächelte immer höflich und behielt ihre Gefühle für sich. Was sollte sie auch sonst tun? Zu riskieren sich bis auf die Knochen zu blamieren, indem sie ihm ihre Gefühle gestand? Dafür war sie viel zu stolz. Da litt sie lieber still und heimlich weiter. Wenn sie sich nicht so häufig sehen würden wäre es wahrscheinlich auch gar kein Problem, aber er meldete sich ständig und wollte sie sehen. Nein sagen wollte sie nicht, er würde sofort merken das etwas nicht stimmte. Er las sie wie ein Buch. Und wenn seine tief dunkelbraunen Augen einmal angefangen hatten sich in ihre zu bohren, gab es kein Zurück mehr. Das wusste sie besser als jeder andere. Eigentlich war sie die Unabhängigkeit in Person. Sie ließ sich nichts gefallen, von niemandem. Aber wenn er ins Spiel kam, hatte sie schon so gut wie verloren und das aus dem besten Grund, der Liebe.

Sie machten sich selbst etwas vor. Er liebte sie, sie liebte ihn. Doch manchmal war das anscheinend nicht genug. Es war besser für einige Zeit unglücklich zu sein als am Ende alles zu verlieren. Anstatt es wenigstens zu versuchen, nahm man es einfach so hin, obwohl sich innerlich alles so zerbrechlich anfühlte das ein einziger tiefer Atemzug gereicht hätte, um alles in hunderte kleine Stücke zu zerbrechen.

Zum fünften Mal an diesem Morgen klingelte ihr Handy laut vor sich hin. Ohne auch nur einen Blick aufs Display zu werfen, wusste sie, dass es sich bei dem hartnäckigen Anrufer nur um einen handeln konnte. Bereits den gesamten Morgen versuchte er sie zu erreichen, wieder und wieder, doch sie ignorierte das nervige Geräusch ihres Klingeltons. Stattdessen zog sie sich ihre warme Bettdecke über den Kopf und versuchte alles um sich herum auszublenden. In dem Moment klopfte ihre jüngere Schwester an ihre Zimmertür. Ja, sie wohnte mit 27 immer noch zu Hause. War es ihr unangenehm? Ein wenig. Aber das Haus ihrer Eltern war riesig, es gab eine Haushälterin, die jeden Tag frisch kochte, die Wäsche wusch. Eben alles das was anfiel. Sie war schon immer recht behütet aufgewachsen, hatte immer all das bekommen was sie sich gewünscht hatte. Früher hatte sie sich nie Gedanken darum gemacht, sondern sich einfach nur gefreut. Doch je älter sie wurde, desto deutlich wurde es, dass ihre Eltern so einiges an Einfluss hatten und sich um Geld keine Sorgen gemacht werden musste. Und seitdem hatte sich in der Hinsicht nicht viel verändert. Einzig, dass sie immer mal wieder mit ihren Eltern aneinandergeriet, weil sie sich angeblich nicht angemessen verhielt oder weil sie einfach nicht deren Meinung teilte. Es klopfte erneut. „Schwesterherz, ich will dich ja nicht nerven, aber dein Handy klingelt jetzt schon zum gefühlt hundertsten Mal. Wie wär’s, wenn du mal dran gehst?“ Merkte ihr Schwester durch die Tür an und sie schlug genervt die Bettdecke zurück. „Lässt du mich rein? Ich bin alleine, versprochen. Ich merke doch, dass irgendwas nicht stimmt.“ Mit einem lauten seufzen quälte sie sich aus ihrem Bett heraus und tapste hinüber zur Tür. Sobald sich der Schlüssel im Schloss gedreht hatte, flog ihre Schwester auch schon ins Zimmer hinein und schloss die Tür hinter sich wieder. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, war sie bereits wieder unter die Bettdecke geflüchtet.

„Okay Louisa, jetzt mal Klartext. Was ist los?“ Sie spürte, wie die Matratze leicht einsank und konnte die Wärme ihrer Schwester förmlich durch die Decke spüren. „Nichts.“ Antwortete sie trotzig. „Sag mir nicht du bist schon wieder auf einer dieser komischen Diäten, du hast letztes Mal schon so viel abgenommen, dass wir uns echt Sorgen gemacht haben.“ Wenig später kroch sie unter der Decke hervor und blickte schmollend zu ihrer Schwester auf. „Ich bin auf keiner Diät, zumindest auf keiner auf der ich nicht sowieso immer bin. Wieso versteht keiner, dass ich einfach mal nur herumliegen will? Ich will mich nicht bewegen, nicht reden, einfach mal nichts tun. Ist das etwa verboten?“ Erwiderte sie sichtlich genervt und blickte zur Decke. „Irgendwas sagt mir, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Wieso gehst du seit Stunden nicht ans Telefon, wenn du genau weißt, dass es Max ist.“ Grinste ihr Schwester leicht und wusste das sie genau den richtigen Punkt getroffen hatte, als Louisa sich mit einem lauten stöhnen zur Seite rollte und ihr den Rücken zukehrte. „Weil er mich auch nervt.“ Murmelte sie leise und seufzte. Wenig später spürte sie, wie ihre Schwester sich neben sie legte und stumm da lag. So ging es eine ganze Weile. Keine der beiden sagte etwas. Sie lagen einfach nur da, schauten Wände und Decken an bis sie beide fast eingeschlafen waren, doch ganz plötzlich setzte sich erneut der Klingelton ihres Handys in Bewegung und sie waren beide wieder hell wach. Sie hätte es längst leise stellen können, dann hätte sie von den ständigen Anrufen gar nichts mehr mitbekommen, doch irgendwie gaben sie ihr Sicherheit. Sie wollte wissen, ob er es weiter versuchte oder aufgab und jedes Mal, wenn das Klingeln erneut losging, schlug ihr Herz für einige Sekunden ein wenig schneller. „Willst du nicht endlich mal dran gehen? Er macht sich sicher Sorgen.“ Stupste die Kleine die große an, doch die schüttelte nur mit dem Kopf. „Ich kann es einfach nicht.“, Murmelte sie und blickte ihre Schwester traurig an. „Was kannst du nicht? Ihr habt euch doch sonst andauernd gesehen, was hat sich geändert?“ Fragte sie ein wenig verdutzt und konnte sehen, wie es im Kopf ihrer Schwester arbeitete und arbeitete. „Ich lieben ihn okay? Jetzt weißt du es. Und jedes Mal, wenn ich bei ihm in der Wohnung bin, riecht es nach irgendeinem billigen Parfüm oder ich finde zufällig fremde Unterwäsche zwischen den Couchkissen. Er redet zwar nie mit mir darüber, aber ich weiß wie oft er sich mit irgendwelchen Frauen trifft und jedes Mal tut es so verdammt weh, dass sich alles in meinem Inneren zusammenzieht. Hast du sowas schon mal erlebt? Ich will ihn einfach nicht mehr sehen.“ Beide blieben für eine Weile stumm bis die jüngere sich räusperte. „Du weißt schon wieso er sich andauernd mit irgendwelchen Frauen trifft, oder?“ Louisa zuckte mit den Schultern. „Weil er ein Mann ist und er keine Lust hat sich zu binden? Was weiß ich“. Sie verdrehte die Augen. „Manchmal stehst du echt auf dem Schlauch. Er liebt dich natürlich auch. Und weil keiner von euch beiden mal auf die Idee kommt dem andere die Gefühle zu gestehen, denkt er natürlich, dass du kein Interesse hast. Und um sich abzulenken und die Gefühle für dich zu vergessen lenkt er sich mit bedeutungslosen One-Night-Stands ab.“ Louisa blickte ihre Schwester vollkommen entgeistert an. „Rosa, bitte. Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Ich hab ihn das letzte Jahr einfach nur vollkommen falsch eingeschätzt. Ich hab immer gedacht er wäre einer von den Guten aber wie du siehst, ist er eben doch total oberflächlich und ich bin ihm einfach nicht hübsch oder dünn genug und deshalb wird das zwischen ihm und mir auch nie etwas geben.“ Erwiderte sie und musste sich anstrengen nicht einfach so in Tränen auszubrechen.

Rosa hatte noch nie wirklich verstanden, wodurch diese riesigen Selbstzweifel  ihrer Schwester ausgelöst wurden. Sie war überdurchschnittlich hübsch mit langen Beinen und einem schlanken Körper. Dazu hatte sie noch diese großen, dunkelbraunen Augen mit denen sie früher den Jungs auf dem Schulhof schon den Kopf verdreht hatte. Doch sie schien nichts davon zu sehen. Sie wollte immer mehr. Noch längere Bein, einen noch flacheren Bauch, noch dunklere Augen. Und obwohl die Männer sich reihenweise nach ihr umdrehten, hatte sie  den Richtigen trotzdem noch nicht gefunden. Doch das Dilemma wäre ja vielleicht bald erledigt, wenn jemand ihr einen Schubs in die richtige Richtung verpassen würde. „Ich sage zu deinem Aussehen nichts mehr, du hörst ja sowieso nicht auf mich oder die tausend anderen die dir schon gesagt haben wie hübsch du bist. Ich mach dir jetzt einen Vorschlag. Du ziehst dir etwas Nettes an und dann schwingst du deinen kleinen Hintern rüber zu Max und sagst ihm, was Sache ist.“ Anstatt zu antworten oder aufzustehen zog sich Louisa erneut die Bettdecke über den Kopf und wägte ab. Irgendwo hatte Rosa Recht. Sie würde es den Rest ihres Lebens bereuen, wenn sie ihm nicht endlich sagte, wie sie empfand. Sie konnte sich ja schließlich nicht für immer in ihrem Zimmer verstecken nur, weil sie ihm nicht über den Weg laufen wollte. „Okay, ich fahre zu ihm. Lässt du mich kurz ein paar Minuten alleine? Dann mach ich mich fertig.“ Kroch sie ein wenig kleinlaut unter der Decke hervor. Ihre Schwester klatschte grinsend in die Hände und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich warte unten auf dich.“ Und schon war sie aus dem lichtdurchfluteten Zimmer verschwunden.

Als sie sich irgendwann von Kopf bis Fuß wie aus dem Ei gepellt ihre Tasche und Jacke schnappen wollte, klopfte es an ihrer Tür. „Louisa? Hier ist jemand, der dich sehen will.“ Wenig später öffnete sich die weiße Holztür und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag augenblicklich beschleunigte als ihr Blick auf ihn fiel. „Hey.“ Murmelte er und lächelte ihr sanft entgegen. „Hi.“ Erwiderte sie kurz und strich ein wenig nervös über die Vorderseite ihres Kleides. „Wieso bist du nicht ans Handy gegangen? Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Sie blickte zu Boden und überlegte. Ihr Gehirn spuckte jedoch keine plausible Antwort aus. „Ich wollte einfach mal für mich sein.“ Er blickte sie mit seinen dunklen Augen an und sie merkte augenblicklich, dass ihm irgendetwas auf der Zunge lag, er es aber einfach nicht raus bekam. „Mir geht es gut, versprochen.“ Sie konnte beobachten, wie sein Blick von ihrem Gesicht über ihren gesamten Körper bis hin zu ihren Füßen und wieder zurück glitt. „Du siehst übrigens toll aus.“ Murmelte er ein wenig vor sich hin. Sie war überrascht, er war doch sonst nicht so zurückhaltend, ja fast schüchtern. Normalerweise war er selbstbewusst und stark aber trotzdem liebevoll. „Danke…ich war gerade eigentlich auf dem Weg zu dir. Aber da bist du mir wohl zuvor gekommen.“ Grinste sie ein wenig und machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. „Wirklich? Ich hatte schon gedacht, du willst mich nicht mehr sehen.“ Erwiderte er ihr Grinsen.

„Wir müssen reden.“ Ihr Blick wurde ernster und sie ließ sich auf dem Ende ihres ungemachten Bettes wieder. Er tat es ihr gleich. Jetzt oder nie. „Ich mag dich, sehr sogar. Und auch wenn ich mich vielleicht bis auf die Knochen blamiere, muss ich es dir einfach sagen.“ Ihre großen, braunen Augen blickten ein wenig unsicher zu ihm auf. „Ich liebe dich und ich will nicht mehr länger nur eine gute Freundin sein und ich kann es auch nicht.“ Sein Blick blieb für sie nicht deutbar. Seine Augen bohrten sich in ihre und er saß für einen Moment einfach nur stumm da. Sie befürchtete bereits das schlimmste und stellte sich innerlich darauf ein, dass er sie abweisen würde. Doch wenig später griff er nach ihrer Hand und schaute auf sie hinunter. „Ich bin ein Idiot. Ich hätte viel früher etwas sagen sollen, stattdessen hatte ich die ganze Angst, dass ich unsere Freundschaft kaputt machen könnte. Louisa, ich liebe dich auch.“ Ihr Herz schien voller Freude und Erleichterung fast aus ihrer Brust zu springen. Sie lächelte ihn glücklich an und schmiegte sich an ihn. „Ich glaube, wir sind beide irgendwie Idioten. Wir hätten schon seit einer Ewigkeit glücklich sein können, stattdessen haben wir uns Gegenseitig die ganze Zeit etwas vorgespielt.“ Sie fuhr ihm sanft durchs Haar und zog ihn zu sicher herunter. Sie küsste ihn vorsichtig und hatte von der ersten Sekunde an das Gefühl endlich angekommen zu sein. Nach all den Jahren.