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Kurzgeschichte (13) - Manchmal braucht's ein bisschen länger

von Portrait von Natalie Huberto Natalie Huberto
Veröffentlicht am 23. Januar 2017

Wer hätte gedacht, dass sie sich jemals in solch einer Situation befinden würde? Sie ganz sicher nicht. Alles ging viel zu schnell. Er hatte sie gepackt, seine Hand über ihren Mund gepresst und sie mit sich geschleift. Sie hatte nur selten Angst, doch in diesem Moment war es selbst ihr kalt den Rücken heruntergelaufen. Nun saß sie zusammengekauert gegen eine Wand gelehnt und wartete ab. Er würde sie nicht umbringen, auch wenn er immer mal ein wenig bedrohlich mit einer Waffe vor ihr auf und ab lief. Sie kannte ihn, das würde er nicht wagen. Deshalb tat sie auch alles, um ihn so gut es ging in den Wahnsinn zu treiben. Vielleicht würde er sie dann freiwillig gehen lassen. Sie maulte hier und da ein wenig, stieß den Absatz ihres Schuhs immer wieder absichtlich gegen die Heizung oder redete immer weiter auf ihn ein. Doch wirklich zu interessieren schien ihn das nicht. Er hatte ganz andere Probleme. Die Wunde an seinem Bauch schmerzte. Sie konnte es ihm am Gesicht ansehen und den bedachten Bewegungen die er machte. „Kannst du mich nicht einfach gehen lassen?“ Schlug sie selbstbewusst vor und sah wie er zum gefühlt zehnten Mal die Augen verdrehte. „Du bist wirklich die nervigste Geisel, die ich mir hätte aussuchen können.“ Er tat fast so, als würde es ihr Spaß machen auf dem Fußboden des Büros zu hocken und darauf zuwarten, dass sich jemand meldete. Da könnte sie sich weitaus schöneres vorstellen, ein heißes Bad etwa. „Wieso bist du überhaupt hier? Du warst doch die letzten Jahre auch wie verschollen.“ Vielleicht würde er ihr wenigstens das verraten. Man konnte nie wissen, vielleicht half ihr das in irgendeiner Weise. „Wenn du es unbedingt wissen willst…die haben mich im Knast abgestochen. Wenn ich nochmal einen Schritt darein setzte, bin ich das nächste Mal Tod. Wenn alles gut läuft, bekomme ich von deinen Eltern das Geld und dann sehen wir weiter.“ Sie schluckte schwer. „Und was wenn nicht alles gut läuft?“ Er stand von dem schwarzen Lederstuhl auf und machte ein paar Schritte auf sie zu. Ein wenig panisch wurde sie erst als er ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger packte und er leise flüsterte. „Glaub mir, deine Eltern werden zahlen. Wenn nicht, muss ich dir leider ziemlich wehtun, auch wenn ich das gar nicht will. Das verstehst du doch, oder?“ Sie sagte nichts, bewegte sich nicht. Sie hatte das Gefühl, dass selbst das Atmen schwer fiel. Vielleicht hatte sie sich doch in ihm getäuscht. Er schien härter als früher, abgeklärter. Dann ging alles ganz schnell. Jemand versuchte ihn zu überwältigen, sprang ihm auf den Rücken. Sie rangelten ein wenig, dabei stieß sie mit dem Hinterkopf gegen die Heizung und merkte wie es ihr nach und nach schwarz vor Augen wurde. Dann wurde es still um sie.

Als sie wieder zu sich kam, blinzelte sie ein wenig, schob die Hände vors Gesicht um sich vor dem hellen Licht zu schützen. Sie war immer noch im Büro. Als sie es trotz des dröhnenden Kopfes endlich schaffte die Augen aufzuhalten, spürte sie, wie das Leben zurück in ihren Körper zu fließen schien. Als sie sich langsam aufsetzten wollte, hielt sie jemand sanft zurück. Beim Blick zur Seite blieb ihr fast das Herz stehen. „Alex, was machst du hier?“ Stammelte sie ein wenig, war aber überglücklich ihn zu sehen. Trotz seines Protests richtete sie sich langsam auf und schlang dann ihre Arme um seinen Hals.  „Dich retten. Hat leider nicht so funktioniert, wie ich es geplant hatte.“ Murmelte er.

Ja, ja. Alex und Sie waren eine Sache für sich. Sie hatten sich gegenseitig ihre Liebe gestanden, doch zusammen waren sie immer noch nicht, nicht mehr traf es eher. Wenn man eine Woche Beziehung, als solche überhaupt bezeichnen konnte. Doch zu dem Zeitpunkt hatte sie es sich durch eine blöde Lüge selbst kaputt gemacht. Doch irgendwie hatten sie danach wieder zueinander gefunden und befanden sich immer wieder im Kampf zwischen Herz und Verstand.

„Das ich das nochmal erleben darf. Meine Halbschwester und der Sohn vom Ex vereint. Ich war wirklich zu lange weg.“ Die beiden blickten ihm ein wenig genervt entgegen und sahen dabei zu, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch festhielt. „Eigentlich sollte ich dich für den Angriff sofort einen Kopf kürzer machen. Du hast mir die Nähte aufgerissen du Depp.“ Er keuchte ein wenig und drückte seine Hand fest auf die Wunde. Doch wirklich zu nutzen schien das nicht. Durch sein schwarzes T-Shirt färbten sich seine Hände langsam rot. Ohne ärztliche Hilfe würde er das nicht lange durchhalten. Ohne ein weiteres Wort verschwand er in ein Nebenzimmer und ließ die beiden alleine. „Wir müssen irgendetwas machen. Vielleicht können wir ihn gemeinsam überwältigen jetzt wo er sowieso geschwächt ist.“ Schlug sie vor, doch er schüttelte den Kopf. „Er hat eine Waffe und er wird sie benutzten, wenn er muss. Ich riskiere nicht, dass dir irgendetwas passiert.“ Erwiderte er und bohrte seine braunen Augen in ihre. „Aber wir müssen doch irgendwas tun? Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und darauf warten, dass er uns nacheinander abknallt.“ Sie war aufgebracht. Allein der Gedanke, dass ihm irgendetwas passieren könnte, ließ die Adern in ihrem Körper gefrieren. Nach all den Monaten war sie nicht bereit die Chance auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm einfach so aufzugeben nur, weil ihr verrückter Halbbruder plötzlich wieder aus dem Nichts aufgetaucht war und sie mehr oder minder mit einer Waffe bedrohte. Alex hatte sie immer beschützt, war immer für sie da gewesen selbst als sie ihn nie wieder sehen wollte. Und jetzt war es an der Zeit, dass sie dasselbe für ihn tat. „Ich hab eine Idee, bitte überleg es dir bevor du direkt nein sagst. Er wird mir schon nichts tun.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. Manchmal musste man jemanden eben auch zu seinem Glück zwingen. „Ich kann ihn sicher mit irgendetwas ablenken. Irgendeine alte Familiengeschichte oder so. Und dann kannst du herausrennen.“ Er überlegte kurz und zögerte. „ Nur damit du Bescheid weißt. Ich habe nur kurz überlegt, weil du mich drum gebeten hast, aber das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage. Ich lass dich doch nicht mit diesem Wahnsinnigen allein.“ Sie seufzte. Eigentlich war es zwecklos. „Aber vielleicht ist das unsere einzige Möglichkeit. Vielleicht weiß gar keiner, dass wir hier sind. Wenn du draußen bist, kannst du die Polizei rufen und irgendjemandem Bescheid sagen. Und dann bin ich in wenigen Minuten auch hier draußen.“ Beide hörten ein leises Knacken, sie hatten nicht mehr viel Zeit, bis er zurückkam. Er schaute sie ein letztes Mal an und presste einen sanften Kuss gegen ihre Stirn. „Ich bin gleich wieder da. Ich hol dich hier raus, versprochen.“

So leise wie möglich tapste er quer durch den Raum und drehte ihr letztendlich den Rücken zu. „Einen Schritt weiter und ich erschieße sie.“ Als er sich geschockt wieder umdrehte, bot sich ihm genau das Bild, welches er unbedingt verhindern wollte. Er hatte sie am Hals gepackt und hielt ihr die Waffe gegen die Schläfe. „Alex geh schon. Los, mach schon. Mach dir um mich keine Sorgen.“ Nicht auch nur eine Sekunde hatte er darüber nachgedacht sie jetzt alleine zu lassen. „Lass sie los, sofort.“ Ihr stockte der Atem, sie spürte, wie sich das harte Material der Waffe in ihre Haut drückte und schloss die Augen. Er würde sie nicht erschießen. Dann hatte er kein Druckmittel mehr, ausprobieren wollte sie es trotzdem nicht. Wenig später spürte sie, wie der Druck um ihren Hals nachließ und als sie ein Auge nach dem anderen wieder öffnete, hatte Alex sie bereits in seine Arme geschlossen und fest an sich gedrückt. Fluchtversuch gescheitert.

Es verging Stunde um Stunde. Sie hatten nichts zu essen, geschweige denn zu trinken. Sie fühlte sich immer noch ein wenig dusselig und die mangelnde Flüssigkeit in ihrem Körper trug nur negativ dazu bei. „Hey, alles okay?“ Murmelte er leise und blickte sie ein wenig besorgt an. Sie seufzte laut und lehnte sich mit ihrem Kopf gegen seine Schulter. „Geht schon. Mir ist nur ein wenig schwindelig.“ Erwiderte sie und hielt sich für einen kurzen Augenblick den Kopf. Plötzlich fing ein Handy an zu bimmeln. Sie schauten beide auf und sahen dabei zu, wie ihr Geiselnehmer leise den Zeigefinger über die Lippen presste und dann abnahm. Zuerst horchten sie still. Er schien zu verhandeln, um Geld und einen Fluchtwagen. „Wenn ich das Geld nicht in zwei Stunden habe, bringe ich beide um. Erst ihn und dann sie…Ich weiß, dass sie meine Schwester ist aber ich brauch das Geld, sonst bin ich Tod. 2 Stunden und keine Minute länger.“ Damit war das Telefongespräch beendet.

Sie hatte das Gefühl die Minuten verstrichen im Sekundentakt. Der große Zeiger der Wanduhr tickte munter vor sich hin immer schneller und schneller, obwohl er jede Minute voll auskostete. Das Handy klingelte erneut. Er nahm ab. „Tick, tock, tick, tock. Sie haben noch genau vierzig Minuten Zeit. Sonst können sie alle beide Tod hier heraustragen.“ Er quälte sich selbst, sie konnten es ihm ansehen.  Lange würde er das nicht mehr durchhalten, alles Blut was er verloren hatte, geschweige denn wie es wohl in seinem Bauchinneren aussah. Mit einem plötzlichen Klingeln öffneten sich die Türen des Fahrstuhls. Alarmiert richtet er die Waffe auf das langsam auseinanderfahrende Metall. Zum Vorschein kam seine andere Schwester, die mit einem Arztkoffer in die Büroräume trat. „Mila, was machst du hier?“ Entsetzt riss er die Augen auf und ließ die Waffe wieder nach unten sinken. Er wollte eigentlich niemandem etwas tun, er wollte einfach nur nicht sterben. Diese Geiselnahme war seine einzige Chance irgendwie an Geld zu kommen und dann abzuhauen. Doch die Wunde an seinem Bauch machte ihm Sorgen, er konnte sich kaum noch aufrichten. „Ich hab mir sowas schon gedacht.“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die Wunde.

Im Raum nebenan hatte er es geschafft sich auf einen Schreibtisch zu hieven und sah nun zu, wie seine Schwester die Wunde gekonnt reinigte, doch ihr Blick sagte ihm bereits, dass er so keine Chance hatte. „Du musst dringend ins Krankenhaus. Ich kann hier nichts für dich tun.“ Sagte sie bestimmt und streifte sich die Plastikhandschuhe von den Händen. „ Ich kann nicht zurück ins Krankenhaus. Von da bringen sie mich in einen paar Tagen zurück in den Knast und da stechen sie mich dann ab. Wieso versteht das denn keiner, verdammt nochmal.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du dich nicht behandeln lässt bist du in wenigen Stunden ganz von alleine Tod. So hast du wenigstens noch die Möglichkeit dich um eine Haftverlegung zu kümmern. Ich kümmere mich um alles, wenn du Alex und Amelia gehen lässt.“

Alex und Amelia saßen immer noch zusammengekauert nebeneinander und hofften nur eins, dass Mila etwas erreichte. „Wenn das hier nicht ganz so gut ausgehen sollte, will ich, dass du eins weißt.“ Sie blickte ihn erwartungsvoll an, bohrte ihre Augen in seine. „Als ich mich damals nicht auf dich eingelassen habe war das nicht, weil ich dich nicht geliebt habe, sondern weil ich mich selbst schützen wollte. Ich weiß ich hab dir damit sehr wehgetan, aber vielleicht hilft es ja, wenn du weißt, dass ich dich die ganze Zeit geliebt habe, ich einfach nur zu blöd war mich darauf einzulassen und für uns zu kämpfen.“ Sie schaute ihn stumm an, spürte den Sog, der andauernd von ihm auszugehen schien. Er zog sie an sich und drückte seine Lippen auf ihre. Was immer auch passieren würde, er wollte sie wenigstens noch einmal spüren.  

Sie schreckten auseinander, als plötzlich ein Schuss abgefeuert wurde. Entsetzt schauten sie Richtung Büroraum in dem Mila sich befand. „Alles in Ordnung. Der Schuss hat sich ausversehen gelöst.“ Alle atmeten erleichtert auf, als sie den Kopf aus der Tür steckte. Sie kramte ein Handy aus ihrer Tasche und drückte ein paar Tasten. „Ja, die Polizei und die Sanitäter können hochkommen. Er stellt sich.“ Dann dauerte es nicht lange, bis Polizisten und Sanitäter durchs Büro wuselten und ihn auf einer Trage nach unten schafften. Wenig später waren auch die Fesseln um die Handgelenke der beiden gelöst und sie schlossen sich erleichtert in die Arme. „Ich hab das ernst gemeint was ich gerade eben gesagt habe. Ich liebe dich und wahrscheinlich hab ich das hier gebraucht, um zu kapieren, dass ich mit dir zusammen sein und dich niemals verlieren will.“ Sie blieb stumm. Sie liebte ihn auch, trotzdem hatte sie Angst. Als er sie das erste Mal zurückgewiesen hatte, hatte er ihr das Herz gebrochen, das stand sie nicht noch einmal durch. Doch wenn sie es gar nicht erst versuchte, würde sie sich das niemals verzeihen. Ein wenig Risiko war wohl immer dabei und egal wie sehr sie sich dagegen werte, sie musste es einfach versuchen. „Ich liebe dich auch.“