Ein pre (ä)chtiger Abend - trotz Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern

von Portrait von Nicole Klein Nicole Klein
Veröffentlicht am 22. April 2014

Beim Aufräumen meines Bücherregals ist mir letztens ein Buch entgegen gefallen, das ich vor ca. einem Jahr begierig gelesen habe. Es handelt sich um Dr. Richard David Prechts Bestseller „Anna, die Schule und der liebe Gott.“

Teile der Debatte, die es ausgelöst hat, habe ich seinerzeit ab und an in Talkshows verfolgt. Nach der Lektüre hatte ich für mich beschlossen, es für ein ungeheuer realistisches, informatives und kurzweiliges Buch zu halten. Weil mir Prechts Recherchen mal wieder gezeigt haben, was für ein grosser absurder Schwachsinn Schule, so wie wir sie kennen, eigentlich ist. Und was sie mit unseren Kindern macht.

Und vor ca einem halben Jahr hatte ich nun herausgefunden, dass Dr. Richard David Precht eben dieses Buch vorstellen wollte. In der Stadthalle Erkelenz. Quasi bei mir um die Ecke. Die Eintrittskarten waren kaum gedruckt und lagen lauwarm in der Hand, so blitzschnell hatte ich sie mir organisiert. Ich sollte tatsächlich noch im September 2013 in der Stadthalle aufrauschen dürfen.

Organisiert wurde der Vortrag von "MENTOR die Lernlesehelfer Kreis Heinsberg e.V." (Mr. Prächtig ist der Schirmherr des MENTOR-Bundesverbandes. Falls es jemanden interessiert.)

Um 19.30 h sollte es am ersten Freitag im September letzten Jahres also losgehen. Bereits um 15 h fange ich an, meine Haare zu bürsten und mein Gesicht auf sichtbare Unreinheiten zu filzen. Und da Zeitmanagement eine meiner Stärken ist, kalkuliere ich für die 70 km bis nach Erkelenz freitags abends gerne mal 2,5 h ein. Ich will überpünktlich ankommen, denn die Platzwahl ist frei. Ich muss mich also beeilen, wenn ich vorne mitmischen will.

Als ich dann in der kleinen Stadthalle eintreffe, habe ich das Gefühl, mich mit einigen vielen überreifen Frauen um die besten Sitzplätze kloppen zu müssen. Immerhin schaffe ich es ohne blaue Flecke in die zweite Reihe. Die erste Reihe war nicht realistisch, die war für die Sparkassengeschäftsführerstellvertretendebürgermeistervorsitzendelokalprominenz schon mit unsichtbaren Handtüchern belegt und somit nicht verfügbar. Ach, denke ich, auch in der zweiten Reihe werde ich ihm auffallen. Da mache ich mir gar keine Gedanken.

Aber wie kriege ich jetzt die 90 Minuten bis zum Beginn der Show rum? Ach, ganz einfach, ich höre den Pappnasen zu, die so um mich rum sitzen. Z. B. hinter mir. Ein älteres Ehepaar. Sie ganz in weiss und mit ziemlich viel Nervengift im trotzdem noch faltigen Gesicht.

Ich habe wie immer meinen Notizblock samt Stift griffbereit in der Tasche und erkenne vielversprechende Chancen, wenn sie sich mir bieten. Wie die folgende. Ich stenographiere also mit.

Misses Botox:
"Gibt's hier Rotwein? Ich brauche Rotwein."
(Zur Erinnerung: wir sind hier in der Stadthalle Erkelenz. Blondsche, Du kannst Dich gerne für ein Glas Wasser, medium, lauwarm, anstellen.)

Der arme Ehemann:
"Weiss ich nicht."

Misses Botox:
"Du könntest zu unserem Italiener gehen und zwei Gläser Rotwein holen.“
(Ich hätte die rote Trinkflasche meines Sohnes mit Fussball-Logo und mit Leitungswasser drinne anzubieten. Die fliegt vom letzten Training noch irgendwo in meiner Tasche rum. Trink' lieber davon ein paar Schlucke, schlage ich ihr im Stillen vor. Viel trinken entschlackt. Transportiert Giftstoffe aus dem Körper.)

Der arme Ehemann:
"Der hat doch bestimmt noch zu."

Misses Botox:
"Nein, ich weiss, dass der um 6 aufmacht."

Der arme Ehemann:
"Ich lauf' doch jetzt hier nicht mit zwei Gläsern Wein in der Hand durch die Fussgängerzone."
(Hätte ich ja zu gerne gesehen, wie er damit auftaucht.)

Einige ruhige Sekunden verstreichen.

Misses Botox:
"Ich will nicht mehr warten. Ich brauche Rotwein und ich habe Hunger. Ich verkaufe jetzt unsere Karten und gehe."
(Das im Gesicht eingespritzte Botox zeigt seine nervengiftliche Wirkung, sie ist am Durchdrehen.)

Der arme Ehemann:
"Die sind doch schon eingerissen, die kriegen wir nicht mehr verkauft."

Misses Botox:
"Natürlich kriegen wir das."
(Sie dampft ab nach draussen zu den Damen am Empfang, macht die wahrscheinlich rund und kommt 5 Minuten später wieder.)

Misses Botox:
" So, lass' uns gehen. Es hat einer unsere Karten gekauft. Wir gehen jetzt was essen."
(HÄ???????????????)

Die Plätze werden also frei und kurze Zeit später setzt sich ein älterer Mann auf einen der beiden freien Stühle. Einige Minuten Stille. Einige weitere Minuten später kommt eine ältere Frau und setzt sich dazu. Sie gönnt ihm keine Ruhe und legt los.

Die Kontaktfreudige:
"Sind Sie alleine hier?"
(Holla, geht die ran.)

Der Reservierte:
"Ja."

Die Kontaktfreudige:
"Interessiert Sie das Thema?"
(Wie bitte? Alte, warum bist Du denn eigentlich hier??)

Der Reservierte:
"Ja, ich kenne Precht und dann tritt ja auch noch dieser Christian Macharski auf, der Precht ankündigen wird."

Die Kontaktfreudige:
"Ach ja, stimmt. Aber auf DEN bin ich nicht scharf."
(Da geht es ihr wie mir. Dabei betont sie das DEN auch noch so schön, so dass ihre Intention auch ja klar rüberkommt. Es ist irre, was alles so um einen herum abgeht, wenn man nur zuhört und sich dabei Notizen macht, um es später wieder zu erinnern...)

Der Reservierte:
"Es geht doch um den Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern."
(Gut aufgepasst!)

Die Kontaktfreudige:
"Ja, Precht schreibt, wir lernen in der Schule Sachen, die wir später nicht brauchen. So isses aber halt. Da kann man nix machen."
(Ich kann nicht mehr!)

Es geht weiter mit belanglosem Blablabla von beiden und dann:

Der Reservierte:
" Ich habe einen Bekannten, der hat einen Enkel, der war schon mit 10 Monaten in der Kita und heute ist er 5 und kann immer noch nicht sprechen."
(?????)

Die Kontaktfreudige:
"Dann issa wohl deswegen gestört, weil sie ihn schon so früh dahin geschickt haben?"
(?????)

Irgendwann ist es dann Gott sei Dank halb acht und uns beide (ich meine nicht Dich, ich meine Mr. Prächtig)
trennen nur ca. 5 mickrige Schrittchen. Wir sind nur deshalb nicht auf Augenhöhe, weil das Bühnenpodest ca. 90 cm erhöht steht.

Mehr als eine Stunde lang schwelgen wir in gemeinsamen Erinnerungen an miese Mathelehrer und langweiligen Physikunterricht.

Da, jetzt hat er in meine Richtung geguckt, ich bin ihm aufgefallen. Hat er doch tatsächlich eine zehntel Sekunde den Faden verloren. Sein linkes Auge flattert. Aber er ist Vollprofi und fängt sich schnell wieder.

Und noch ein Blick. Ich wusste es.

Sein Musiklehrer war auch unterirdisch, genau wie meiner. Er selbst war laut eigenem Bekunden ein Nerd, ich glaube ich bin auch einer.

Und schon wieder, eine Sekunde zu lang auf mich draufgehalten. Bingo!

Aber auch dem Vortrag ist äusserst hübsch zuzuhören, er ist kurzweilig, interessant und lehrreich.

Eine Stunde später stehe ich dann mit meinem Buchexemplar unterm zitternden Arm in der kleinen Schlange, auf dass es signiert werde. ICH NÄHERE MICH DEM ZIEL.

Ich: "Hi."

Er: "Ach, die hübsche Frau aus der zweiten Reihe."

Ich: "Wow."

Er: "Wollen wir uns, wenn ich hier fertig bin, kurz mal zusammensetzen?"

Ich: "Och, warum nicht, nebenan ist auf dem Erkelenzer Marktplatz Kirmes, wir könnten vielleicht auf 'ne Zuckerwatte...

Er: "...oder ein Eis am Stiel...?"

SCHNITT. AUFWACHEN.

Ich habe falsch synchronisiert. Bin dummerweise im falschen Genre gelandet.

Es steht jetzt nur noch eine einzige weibliche Gestalt vor mir in der Schlange. Ich reisse mich zusammen.

Und bin endlich an der Reihe, sichtlich nervös.

An dieser Stelle folgt die ernüchternde Originalunterhaltung. Nicht geschönt, statt dessen zu 100 % unverfälschte Natur.

Ich: "Hi, könnten Sie Ihr Buch meinem Sohn widmen?"

Er: "Gerne, wie heisst er denn?"

Ich: "Theo."

Er: " Mit TH?"
(Stundenlang schlaue Vorträge halten, aber fragen, OB MAN THEO MIT TH SCHREIBT? Was für 'ne billige Anmache ist das denn?)

Ich: "Ja."
(Gehaucht)

Er: "Wie alt ist denn Theo?"
(Mit Th)

Ich: "9 und wir haben uns noch nicht entschieden."
(Für eine weiterführende Schule, meine ich.)
(Ansonsten, eistechnisch, mag ich Stracciatella ganz gerne...)

Er: "???"

Ich: "Danke und Tschö."
(So was von Scheisse gelaufen.)

Ich fahre jetzt nach Hause. Es ist 21.20 h.

Hat die Eisdiele zufälligerweise noch auf?