Wie realitätsnah ist "Auf der Flucht - Das Experiment" im ZDF?

von Portrait von Lisa Siewert Lisa Siewert
Veröffentlicht am 9. August 2013

Schon vor der ersten Sendung wurde viel über „Auf der Flucht – das Experiment“ diskutiert. Drittklassige Promis erleben die Stationen einer Flucht aus dem Irak oder Afrika nach Deutschland. Die erste Folge lief gestern auf ZDFneo und sorgte für den erwarteten Wirbel. Wir haben deshalb mit einer Frau gesprochen, die fast täglich mit Flüchtlingen zu tun hat. Annette ist in einer sogenannten „Clearingstelle“ in Norden-Norddeich in Niedersachsen tätig. Sie arbeitet im Auftrag der Landesregierung und lebt mit minderjährigen Flüchtlingen zusammen. Wie hat sie die umstrittene Sendung bewertet?

Unser Gespräch hat für uns zum Teil überraschende Ergebnisse: Während viele Medien die erste Folge von „Auf der Flucht - Das Experiment“ zerreißen, bewertet die Fachfrau die Sendung als grundsätzlich „okay und informativ für Leute, die noch gar kein Hintergrundwissen haben“. Viele der Stationen, welche die Prominenten durchlaufen, sind tatsächlich wichtige Knotenpunkte auf einer Flucht nach Deutschland. In der ersten Folge findet sich das "Team Irak" beispielsweise im Grenzdurchgangslager Friedland in Niedersachsen wieder. Es ist das einzige Erstaufnahmelager in Deutschland. Auch die Einrichtung in der Annette Siewert tätig ist, arbeitet deshalb eng mit Friedland zusammen.

Auch wird das Problem mit der Bürokratie in Deutschland in der ersten Folge angesprochen. Siewert betont, wie schwierig für viele Flüchtlinge die Regelung ihrer Papiere sei. Aus ihrer Heimat kennen sie es nicht und können so nur schwer nachvollziehen, warum sie bei jedem Amt ihre Geschichte wiederholen müssen. Auch die Drittstaatenregelung und die damit verbundene Abschiebung werden thematisiert. Oder die drastischen Maßnahmen für die sich Menschen entscheiden um weiterzureisen: Ein Mann, der sich die Fingerkuppen verstümmelt, damit er nicht identifiziert werden kann.

Siewert erklärt, man könne an den Stationen der Reise auch erkennen, warum so viele Menschen nach Deutschland wollen: In Italien oder Frankreich sind die Bedingungen für Flüchtlinge viel härter, der Staat kümmert sich nicht um sie. In Deutschland gibt es Unterstützung, Einrichtungen wie die der Clearingstelle für Jugendliche an der Nordsee. Hier finden sie wieder ein Zuhause, Hilfe bei ihren Aufenthaltserlaubnissen oder psychologische Betreuung.

Wie realitätsnah ist "Auf der Flucht - Das Experiment" im ZDF?

Trotzdem ist der ´Rückwärtsgang´ der Flucht, den die Promis erleben, ihrer Meinung nach nicht ganz authentisch: Der Weg wird je näher sie an das Fluchtland beziehungsweise das ´Ziel´ Afrika oder Irak kommen eher einfacher. Der umgekehrte ´echte´ Fluchtweg sei die Herausforderung: Umso näher ein Flüchtling an Europa oder Deutschland kommt, desto mehr wird ihm die Weitereise erschwert. Den Promis müsste es in den nächsten Folgen deshalb eher leichter fallen Hilfe zu finden und voran zu kommen, glaubt Siewert.

Weiterhin kritisiert sie, dass eine Fluchtzeit von drei Wochen oder weniger eigentlich utopisch sei. Schlepper organisieren die ersten Etappen der Flucht, fast nie gibt es Zeitpläne und man kommt nur Stück für Stück weiter. Die meisten Flüchtlinge bräuchten zwischen drei und sechs Monaten für ihre Flucht.

Über die mehr oder weniger Prominente Besetzung der Sendung will sich Siewert nicht direkt beschweren. Einzig der Konflikt zwischen Ex-Nazi Kevin Müller und der Streetworkerin Songül Cetinkaya wäre zum Teil anstrengend und habe die wirklich wichtigen Dinge etwas in den Hintergrund gedrängt.

Die Zeit schreibt, sie wolle das ZDF wegen dieser Reality-Show nahen Auslegung des Formats den Sender nicht mit RTL vergleichen. Vielleicht wäre es in diesem Fall aber gar nicht schlecht, sagt Siewert: Sie erinnert sich an die Sendung „Das Jenke-Experiment“ auf RTL. In einer Folge begab sich Jenke von Wilmsdorff auf ein Flüchtlingsschiff, dessen Ziel die berühmt berüchtigte Flüchtlingsinsel Lampedusa war. Der Reporter hatte sich damals in eine reale Gefahr von Flüchtlingen begeben: Bei Schiffsuntergänge auf der Route sterben immer wieder hunderte Flüchtlinge.

Das Fazit von Annette Siewert: Die Sendung ist gut um sich erste Eindrücke von der Situation der Flüchtlinge zu machen. Besonders in Deutschland steige die Ablehnung in der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen. Was gibt es also besseres als einen Ex-Nazi oder eine die Thilo Sarrazin Anhängerin Karin Weiland die Situation von Füchtlingen am eigenen Leib erfahren zu lassen? Siewert und viele ihrer Kollegen werden die Sendung auch weiterhin verfolgen. Die erste Folge hat sie neugierig gemacht: Bleibt das ZDF realitätsnah oder wird sich zunehmend auf die Konflikte der Kanditaten konzentriert? Die minderjährigen Flüchtlinge, welche die Einrichtung betreut, werden die Sendung nicht sehen. Viele von ihnen sind zu traumatisiert. Die Geschehnisse von „Auf der Flucht“ waren für sie leider kein Experiment.