Überragender Literaturkritiker und NS-Regime Überlender Reich-Ranicki ist tot

von Portrait von Lisa Siewert Lisa Siewert
Veröffentlicht am 19. September 2013

Marcel Reicht-Ranicki ist tot. Mit ihm verstarb gestern der größte deutsche Literaturkritiker seiner Zeit. Vielen jüngeren Deutschen ist er aber erst wieder ein Begriff, seitdem er vor fünf Jahren in einem legendären Auftritt seinen Ehrenpreis beim Deutschen Fernsehpreis ablehnte. Doch Reich-Ranicki wirkliche Leistung der vergangenen Jahrzehnte war natürlich eine andere: Wie kein Zweiter verstand er Literaturkritik, im Kampf gegen das langweilige und schlecht Geschriebene. Seine eigene Vergangenheit als verfolgter Jude im Dritten Reich konnte er jedoch nie ganz verarbeiten.

Reich-Ranicki wurde 1920 in Polen geboren, später zu reichen Verwandten nach Berlin geschickt. Ein Literatur und Theater begeisterter junger Mann, sein größtes Vorbild war damals Thomas Mann. Im Laufe des NS-Regimes wurde Reich-Ranicki zurück nach Polen deportiert. Zurück in seinem ihm nun fast fremden Heimatland lernte er zwar seine spätere Frau Tosia kennen, jedoch gab es einige schwere Schicksalsschläge in ihren Familien. Reich-Ranickis Eltern wurden in den Gaskammern der Nazis umgebracht, sein Bruder erschossen, seine Schwester floh. Er überlebte im Ghetto in Warschau als ein Mitglied des sogenannten Judenrates und als Schreiber für die Ghetto-Zeitung. Kurz vor der Deportation in ein Vernichtungslager konnten er und seine Frau entkommen und lebten lange im Untergrund.

"Die Angst vor der deutschen Barbarei, das habe ich auch in meiner Autobiografie geschrieben, hat mich ein Leben lang begleitet."

Viele Vertraute berichten, Reich-Ranicki hätte bis zuletzt das Trauma der Flucht nicht überwunden. Die gründliche, wiederholte Rasur am Tag, ein Relikt aus Ghetto-Zeiten. Im FAZ-Nachruf schreibt man, er habe das Trauma immer weggesperrt und trotzdem habe man es ihm angemerkt.

Ende der 50er Jahre kamen Reich-Ranicki und seine Familie wieder zurück nach Deutschland, wo er als Literaturkritiker für die FAZ, die Zeit und schließlich wieder für die FAZ arbeitete. Bei der FAZ leitete er schließlich die Literaturredaktion. Marcel Reich-Ranicki wurde bekannt für seine leidenschaftlichen Kritiken, seine Verehrung für bestimmte Autoren und seine Verachtung für andere.

Von 1988 bis 2001 leitete Marcel Reich-Ranicki "Das literarische Quartett" beim ZDF und erreichte einen bis dato ungewöhnlichen Bekanntheitsstatus für einen Literaturkritiker. In den Sendungen zeigte sich Reich-Ranicki als angriffslustig, leidenschaftlich für die Literatur, als verzweifelt, humorvoll, böse, traurig, liebenswürdig und in noch hunderten weiteren Facetten, dass viele auch nur einschalteten um zu sehen, wie sich die schlauen Köpfe der Literatur zum Teil so tüchtig in die Haare bekamen, dass Vater zuhause auf dem Sofa die Lesebrille fast von der Nase rutschte.

"Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik."

Neben seinen Literaturkritiken erreichte Reich-Ranicki vor allem für Ruhm bei der jüngeren Generation durch seine ´Wutrede´ beim Deutschen Fernsehpreis 2008. Die Mischung aus Entsetzen, Scham und dümmlicher Belustigung der anwesenden Gäste aus Film und Fernsehen, ist bis heute unvergessen. Noch wochenlang wurde darüber diskutiert, ob das so in Ordnung war oder nicht.

„Ich nehme diesen Preis nicht an (…)“

Tatsächlich sagt Reich-Ranicki in dieser Rede einen Satz, der vielleicht ganz gut in seinen Nachruf passt:

„Ich gehöre nicht in diese Reihe der heute (…) Preisgekrönten“

Und das gehört er auch nicht. Marcel Reich-Ranicki hat etwas Größeres geleistet, er hat die Literatur den Menschen näher gebracht. Und dafür muss man dem kleinen Mann, mit der großen Vergangenheit und den manchmal noch größeren Wutausbrüchen, einfach danke sagen.